Ulla
&
Willi

Lucie Marsmann hat von ihren Großeltern Fotos geerbt, die sie zu einem Schatz verarbeitet hat. Die beiden haben sich über Jahrzehnte an den gleichen Orten wechselseitig fotografiert – Instagram vor seiner Zeit

Was bleibt eigentlich übrig, wenn irgendwann das Haus der Großeltern, die Wohnung der Eltern besenrein ist, man die Tür ein letztes Mal zuzieht? Fotoalben. Familienfotos wirft kaum jemand weg, aber meist weiß niemand noch etwas Vernünftiges mit ihnen anzufangen.

Urlaub in Schenna, Italien, 1974

Die visuelle Künstlerin und Fotografin Lucie Marsmann begann im Jahr 2012, sich mit dem Nachlass ihrer Großeltern mütterlicherseits zu beschäftigen, diesen aufzuarbeiten – und auch „zur Diskussion zu stellen“, wie sie selbst schreibt. Ihre Großeltern, Ulla und Willi, hatten über Jahrzehnte die Angewohnheit, sich gegenseitig am selben Ort zu fotografieren, Schuss und Gegenschuss. Man sieht sie mit Rosen vor Alpenkulisse, in Badekleidung auf dem Balkon der Ferienwohnung, vor der Motorhaube des neuen Autos, im Wohnzimmer. Schuss und Gegenschuss zeigen das Glück ihrer Tage – mit einer Prise Humor, der retrospektiv leicht angeschrägt bis schön schrullig wirkt und bezogen auf die Praxis gegenwärtiger Fotografie fast schon von Hellsichtigkeit zeugt: Ulla und Willi betrieben eine Instagram-Selbstdarstellung mit den Mitteln der Analogfotografie, auch wenn sie sich nicht des Selbstauslösers bedienten, sondern sich gegenseitig in Szene setzten.

Lucie Marsmanns Großeltern waren dabei Profis, denn beide waren Fotograf*innen, hatten ihre Leben der Fotografie verschrieben. Sie besaßen ein eigenes Foto-Geschäft und Porträt-Studio, der Großvater war außerdem Fotojournalist für regionale Tageszeitungen im Umkreis von Wuppertal und Remscheid.

Mit dem neuen Auto in Lennep, Ortsteil von Remscheid, 1974

Lucie Marsmanns Buchprojekt „Ulla & Willi“ ist nicht nur die liebevolle Darstellung eines Rituals, sondern darüber hinaus eine Erinnerung an die fast versunkene Welt besagter Analogfotografie. Und an eine Welt von Gestern, die uns endgültig zu entgleiten scheint: die Bundesrepublik der Nachkriegszeit mit ihrer Erzählung vom Wohlstand für alle, beständigem Frieden inmitten des Kalten Krieges, dem kleinen Glück zu Hause und dem großen Glück auf Reisen. Und natürlich dem Freiheitsversprechen des Individualverkehrs – dem eigenen Wagen.

Opas Schlüssel­anhänger, 2016 Foto: Lucie Marsmann

Lucie Marsmann hat den Nachlass der Großeltern nicht nur archiviert sondern auch befragt, ihn zum Anlass einer Neuproduktion genommen. Das Buch enthält auch eigene Fotografien von Orten und Gegenständen, mit denen sie Erinnerungen an die Großeltern verbindet. Ein Schlüsselanhänger des Großvaters zum Beispiel oder ein Tanzschuh der Großmutter.

Omas Tanzschuh, 2016 Foto: Lucie Marsmann

Es ist eine zeitgenössische Perspektive geworden, auch mit dem einen oder anderen Erstaunen über bizarre Tapetenmuster und quietschende Autofarben, die beim Betrachter, je nach Herkunft und Alter, sicher auch eigene Erinnerungen weckt. Und die leise Frage aufwirft, was eigentlich eines Tages mit den eigenen Aufnahmen in der Cloud geschehen mag. Man hat sich ja nicht einmal selbst die Mühe gemacht, sie einzukleben.

Urlaub in Schenna, 1985

Silvester in Lennep, 1983/84 Fotos: Ulla Kübach, Willi Kübach

Martin Reichert