… ist vielleicht doch nicht Berlin

Potsdam, die kleine Schwester Berlins, bestach einst durch ihren maroden Charme und die Lesbarkeit brandenburgisch-preußischer Geschichte. Dann wurde sie hochnäsig. Kein Ort zum Leben, findet unser Autor, obwohl er selbst mal damit geliebäugelt hat

Wo Ost und West früher Agenten austauschten, wechseln heute vor allem Vorurteile das Ufer: die Glienicker Brücke zwischen Potsdam und Berlin    Foto: Peter Rigaud/laif

Von Uwe Rada

Es war das Postkartenpotsdam, das mich schon zu Mauerzeiten fasziniert hatte. Der Blick auf die Heilandskirche in Sacrow beim Spazieren am Havelufer. Oder das Babelsberger Schloss mit seinen Türmen im Tudor-Stil. Was für ein Kontrast zum erzwungenen Halt des Interzonenzugs in Griebnitzsee. Blasse DDR-Grenzer patrouillierten mit Schäferhunden am Bahnsteig. Preußen, dachte ich damals, pflegt noch immer beides: Den Hang zum Schönen und zum Soldatischen. Wie gut, dass es da Westberlin und seine Nischen gab, in denen man sich herrlich verstecken konnte.

Nach dem Fall der Mauer ließ ich die Dialektik fahren und erlag dem Potsdamer Charme. In Sanssouci begriff ich, was Friedrich hätte sein können, wenn er nicht „der Große“ geworden wäre. Das Neue Palais, das er nach dem Siebenjährigen Krieg errichten ließ, war dann nicht mehr sorgenfrei, sondern machtgeil. Vom Ende Preußens erzählten mir das Schloss Cecilienhof und die Villen am Griebnitzsee, in denen Stalin, Churchill und Truman logierten. In Potsdam konnte ich brandenburgische und preußische Geschichte lesen, während mir in Berlin Schritt auf Schritt die Gründerzeit und die DDR über den Weg liefen.

In diese Zeit fiel auch der Gedanke, nach Potsdam zu ziehen. Natürlich wäre es eine Flucht gewesen. Aber jetzt, ohne Mauer, war vieles möglich, an das sich zuvor ein Gedanke verboten hatte. Warum also nicht nach Potsdam ziehen? Zum Beispiel ins Holländische Viertel, ein bauliches Denkmal preußischer Toleranz, das die Bürgerbewegung vor der Sprengung gerettet hatte. Oder nach Babelsberg auf der anderen Seite der Havel, wo schon die Alternativkultur sichtbar wurde?

Raus aus dem lauten Berlin wäre ich dann, näher an der Natur und immer noch nahe an Berlin, der großen Schwester.

Bevor ich mich zu diesem Schritt entschließen konnte, war die kleine Schwester dabei, flügge zu werden.

Schnell wuchs sie heran und wurde dabei immer hochnäsiger. Wollte schnell in neue Kleider schlüpfen und die alten, abgetragenen, die ich so an ihr mochte, in die Ecke werfen.

Das große Berlin

Berlin ist heute mit 3,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zweifellos die größere der beiden Schwestern. Allerdings dauerte es lange, bis die Fischersiedlung an der Spree zur Großstadt wurde. 1800 hatte Berlin erst 172.000 Einwohner. Hundert Jahre später waren es schon 1,9 Millionen. Nach der Bildung von Groß-Berlin 1920 zählte die Metropole damals immerhin 3,9 Millionen Einwohner.

Das alte Potsdam

Die ältere Schwester ist Potsdam. Während Berlin erst 1237 urkundlich erwähnt wurde, datiert die Erwähnung von „Poztupimi“ auf das Jahr 993. Mit 183.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist die Landeshauptstadt deutlich kleiner als Berlin, aber immer noch die größte Stadt in Brandenburg.

Die Machtfrage

Und welche Schwester hat mehr Macht? Hängt davon ab, um welche Zeit es geht. Die brandenburgischen Markgrafen haben 1451 Berlin zu ihrer ersten Residenz gemacht. 200 Jahre lang gab Berlin allein den Ton an, dann machte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620–1688) Potsdam zur zweiten Residenzstadt: der Beginn einer Wachstumsphase. Nach dem Toleranzedikt 1685 zog es Glaubensflüchtlinge nach Potsdam, später machte der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. Potsdam zur Garnisonsstadt und ordnete den Bau der Garnisonkirche an. Friedrich II. schließlich erkor Potsdam zu seiner Lieblingsresidenz. 1745 ließ er Schloss Sanssouci bauen. Nach dem Sieg über Österreich im Siebenjährigen Krieg begann 1763 der Bau des Neuen Palais.

Hauptstadt und Provinz

Das Neue Palais war auch der Schauplatz einer Zäsur, wie die Potsdam-Kennerin Sigrid Grabner schreibt: „Die Katastrophe ereignete sich am 27. November 1918. Der Kaiser dankte ab und verließ heimlich wie ein Dieb in der Nacht das Neue Palais. In jenem Augenblick, da sich der Zug vom Bahnhof Wildpark in Richtung Holland in Bewegung setzte, gab es keine erste und keine zweite Residenz mehr, sondern nur noch Hauptstadt und Provinz.“ Und heute wohnt sogar Berlins Prominenz von Günther Jauch bis Olaf Scholz ... in Potsdam. (wera)

Es war die Zeit der großen stadtpolitischen Debatten. Wieviel DDR darf in der Innenstadt bleiben? Soll das Stadtschloss wieder aufgebaut werden und mit ihm der Alte Markt? Und was ist schlimm am Wiederaufbau der Garnisonkirche, wo sich Hitler und Hindenburg die Hand schüttelten und die Alleinherrschaft der Nazis besiegelten?

Immer eigener wurde die kleine Schwester und immer exklusiver in ihrem Auftreten. Warf sich in Schale, posierte mit Größen wie Günther Jauch, die ihr das wiederaufgebaute Fortunaportal des Stadtschlosses spendierten, oder Hasso Plattner, dem Mäzen des Museums Barberini.

Die kleine Schwester lockte den Geldadel an und warf den verarmten Adel aus dem Haus. Nicht einmal lustig machte sie sich über sich selbst, denke ich heute, und ahne doch, dass sie wohl nie Humor gehabt hat, auch nicht, als sie noch klein war.

Wann genau ich meinen Fluchtplan aufgegeben habe, weiß ich nicht mehr. Ich wusste nur, dass ich irgendwann bei meinen Besuchen in Potsdam diesen Erleichterungsgedanken hatte: Puh, gut, dass ich das nicht gemacht habe. Der Kelch ist an mir vorbeigegangen. Selbst wenn mich die kleine Schwester nicht herausgeworfen hätte und ich mir die Stadt hätte leisten können, wäre ich doch in ein Museum gezogen. Der physische Staub war zwar weg, aber neuer, geistiger Staub war dazugekommen.

Was für ein Kontrast war dagegen die große Schwester. Ja, auch sie hatte sich schick gemacht, aber aller Dünkel war ihr fremd. Lockerer wurde sie sogar mit der Zeit, weltgewandter, schaute mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit. Berlin war Großstadt und wurde zur Metropole. Potsdam wurde Großstadt und wurde zur Provinz.

Inzwischen bin ich mir auch bei Berlin nicht mehr sicher. Auch Berlin hat inzwischen sein Stadtschloss, und die städtebaulichen Debatten ähneln mehr und mehr denen von Potsdam in den neunziger Jahren. Um Rekonstruktion geht es da, um die Sehnsucht nach guten Stuben und den nostalgischen Blick in die Vergangenheit.

Lockerer wurde die große Schwester, weltgewandter, schaute mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit

Und auch das: Je mehr die Innenstadt zur begehrten Wohnlage betuchterer Familien wurde, desto mehr Dorf kam in die Stadt. Das Dorf klagte die Clubs weg und die Proberäume, um endlich Ruhe zu haben. Selbst Gated Communities gibt es inzwischen. Dabei hatte ich mich noch lustig gemacht über Potsdam, als dort der erste dieser abgeschotteten und aseptischen Lebensträume hochgezogen worden war.

Auch eine Metropole kann zur Provinz werden, da bin ich mir inzwischen sicher. Seitdem bin ich ganz entspannt, wenn ich in Potsdam bin. Freue mich, dass das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte inzwischen mehr Coolness verbreitet als das Drumherum am Neuen Markt. Besuche gerne eine Freundin, wenn sie in Sacrow ist.

Erwachsen ist die kleine Schwester jetzt und hat selbst schon Kinder, um die sie sich kümmern muss. Mein Problem ist das nicht mehr. Das Postkartenpotsdam habe ich aus den Augen verloren.