Verkehrswende in Berlin: Die Autos kommen zurück
Im Streit um die autofreie Friedrichstraße gibt Verkehrssenatorin Jarasch (Grüne) nach. Die Sperrung für Autos wird aufgehoben – vorerst.
Was auf den ersten Blick nach einer lokalpolitischen Posse aussieht, hat in Wirklichkeit berlinweite politische Relevanz. Vor knapp zwei Wochen hatte das Verwaltungsgericht einen Eilbeschluss veröffentlicht, wonach die Sperrung der schmalen, aber überwiegend hochpreisigen Einkaufsstraße für Autos nicht mehr erlaubt sei. Begründung: Der dortige so genannte Verkehrsversuch war im Mai zu Ende gegangen. Geklagt hatte ein Anliegerin aus einer Nebenstraße.
Jaraschs Vorgängerin als Verkehrssenatorin Regine Günther hatte im August 2020 den 500 Meter langen Abschnitt für den Autoverkehr gesperrt und versucht, daraus eine Flaniermeile zu machen – ein prestigeträchtiger, lange vorbereiteter Modellversuch, wie nach Ansicht der Berliner Grünen Innenstädte umgebaut werden könnten. Die Cafés stellten Stühle vor die Tür, einige Schauvitrinen und Sitzbänke fanden Platz. In der Mitte der Straße hatten Radfahrer*innen weitgehend freie Fahrt.
Nach knapp zwei Jahren ist inzwischen aber auch klar: Das Sperren allein einer Straße führt zu Folgeproblemen in benachbarten Straßen. Doch das Gesamtkonzept für die Gegend rund um den Gendarmenmarkt blieben Günther und später Jarasch bisher schuldig.
Bettina Jarasch, Verkehrssenatorin
Zudem hatte die Entscheidung des Verwaltungsgericht zu einem harschen Streit zwischen der Verkehrssenatorin und der Regierenden Bürgermeisterin geführt. Letztere forderte publikumswirksam eine rasche Rückkehr der Autos; Jarasch attestierte Franziska Giffey (SPD) öffentlich, die Entscheidung des Gerichts wohl nicht verstanden zu haben. Allgemein wurde beiden bescheinigt, bereits mit vollem Schwung in den Wahlkampf eingestiegen zu sein – voraussichtlich am 12. Februar 2023 muss in Berlin die Wahl von 2021 wiederholt werden.
Klein beigeben oder den Rechtsstreit suchen?
Jarasch stand nun vor der Frage, ob sie gegen die Entscheidung juristisch vorgehen sollte: Sie hätte nur bis Dienstag dafür Zeit gehabt und ein erneutes Scheitern wäre klar im Bereich des Möglichen gewesen. Die Senatorin entschied sich am Montag für das wohl kleinere Übel: Kurzzeitige Rückkehr der Autos, danach schneller Umbau in eine echte Fußgängerzone.
„Wir arbeiten weiterhin, unabhängig von dem Eilbeschluss, an der autofreien Flaniermeile“, erklärte Jarasch laut der Mitteilung. Diese soll eingebunden sein in eine Verkehrslösung auch für die Umgebung. „Sobald dies umgesetzt ist, können wir uns an die dauerhafte Ausgestaltung der Fußgängerzone als Teil eines Gesamtkonzepts für die historische Mitte machen.“
Der Radweg wird eine Straße verschoben
Als ersten Schritt für den Umbau kündigte Jarasch an, aus der parallel verlaufenden Charlottenstraße eine Fahrradstraße zu machen. Dort haben dann Radfahrer*innen Vorrang vor Autos. „Radfahrenden bieten wir damit eine attraktive Nord-Süd-Route an, um den Wegfall des Radstreifens in der Friedrichstraße zu kompensieren“, erklärte Mittes Stadträtin für Verkehr, Almut Neumann (Grüne).
Parallel arbeite der zuständige Bezirk Mitte an der dauerhaften Umwidmung des Teils der Friedrichstraße. Auch Einbahnstraßenregelungen seien künftig möglich, so Jarasch. Vorerst werden aber bis zum 22. November alle Sitzgelegenheiten, Bepflanzungen und Stadtmöbel, sofern diese den Autoverkehr behindern, entfernt, genauso wie der Fahrradstreifen in der Straßenmitte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“