Historie des Crossdressing: Facettenreich gegen Konventionen
Crossdressing gibt es schon lange. Seit Jahrhunderten hinterfragen Menschen mit Kleidung gängige Geschlechterrollen.
Kaiser Elagabal lebte kurz, aber turbulent als Herrscher im antiken Rom. Durch eine Militärrevolte gelangte er im Jahr 218 im Alter von nur 14 Jahren an die Macht. Während seiner vierjährigen Regentschaft machte sich der junge Kaiser viele Feinde. Sein unangepasster Führungsstil führte zu einem Soldatenaufstand, der schließlich mit seiner Ermordung endete. Doch nicht nur Elagabals autoritäre Herrschaft brüskierte das römische Volk, auch sein unkonventionelles Aussehen sorgte für Aufruhr. Wie der römische Konsul Cassius Dio in seinen Aufzeichnungen berichtet, soll sich der Imperator geschminkt, mit Perücken geschmückt und als Venus verkleidet haben. Als sein Weggefährte Aurelius Zoticus den Kaiser einmal als „mein Herr“ ansprach – so wird es überliefert –, erwiderte er: „Nennen Sie mich nicht Herr, ich bin eine Dame.“
Ähnlich wie Elagabal nutzen Menschen seit Jahrhunderten Kleidung, um die ihnen zugeschriebene Geschlechtsidentität zu hinterfragen. Das Tragen von Mode, die im binären Alltagsverständnis mit dem jeweils anderen Geschlecht assoziiert wird, bezeichnet man als Crossdressing. Die persönlichen Motive sind dabei so vielfältig wie die Menschen selbst. Crossdressing kann dem politischen Protest, der Selbstdarstellung, Theaterkonventionen, dem Schutz oder der Befriedigung sexueller Fantasien dienen. Beim Drag, der wohl populärsten Spielart des Crossdressings, steht vor allem die kunstvolle Inszenierung im Vordergrund. „Wir sind Gestaltenwandler“, erklärt Drag Queen RuPaul in der Talkshow „The Real“. Dabei wird ein wichtiger Unterschied zu trans* Personen deutlich. Während es Drags wie RuPaul um das Performen einer Identität vor Publikum geht, identifizieren sich trans* Personen nicht mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht.
Im Fall von Elagabal können wir über die Motive nur spekulieren. Die Äußerung, eine Dame zu sein, jedenfalls kann auch als Statement einer trans* Frau gelesen werden. Klar ist: Wie sich eine Person kleidet, ist für die innere Geschlechtsidentität erst mal unerheblich. Crossdresser:innen können sowohl trans* als auch cis sein.
Eine besonders lange Historie hat Crossdressing in der europäischen Theaterkultur. Bereits lange vor Elagabals Wirken war genderübergreifendes Schauspiel in griechischen Amphitheatern verbreitet – wenn auch zunächst nur unter männlichen Schauspielern. Da strikte patriarchale Regeln Frauen den Auftritt vor Publikum nicht gestatteten, verwandelten sich männliche Darsteller auf der Bühne in Figuren wie Medea und Antigone.
Schauspielverbot für Frauen
Auch zur Blütezeit des Shakespeare-Theaters war es weiblichen Darstellerinnen zunächst verboten, als Schauspielerinnen zu arbeiten. Theatergruppen wie die Lord Chamberlain’s Men griffen bei der Darstellung von Frauenrollen daher auf die jugendlichen sogenannten Boy Actors zurück. Als ein gewisser Henry Jackson 1610 in Oxford eine Othello-Aufführung sah, schrieb er über den jungen Desdemona-Darsteller: „Sie hat die Sache immer sehr gut gespielt, in ihrem Tod hat sie uns noch mehr gerührt.“ Erst mit der Aufhebung des gesetzlichen Schauspielverbots für Frauen Mitte des 17. Jahrhunderts verloren die Boy Actors an Relevanz.
„Under Cover – A Secret History of Cross-Dressing“ bis zum 18. Januar 2023 im C/O Berlin.
Und nun begannen auch Schauspielerinnen mit Crossdressing: In sogenannten Hosenrollen mimten sie männliche Figuren. Besonders eindrucksvoll gelang das Ende des 19. Jahrhunderts der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt, die als erster weiblicher Hamlet internationale Aufmerksamkeit erregte. „Es gibt fünf Arten von Schauspielerinnen: schlechte, mittelmäßige, gute und großartige – und dann gibt es noch Sarah Bernhardt“, soll der Schriftsteller Mark Twain über die Schauspielerin gesagt haben.
In Bernhardts Heimat fand Crossdressing zur selben Zeit auch auf Kleinkunstbühnen immer mehr Anklang. Im Jahr 1881 eröffnete der Künstler Rodolphe Salis auf dem Pariser Montmatre das berühmte Kabarett Le Chat Noir. In den folgenden Jahren wurden die französischen Cabarets zu Orten des Aufbegehrens gegen Geschlechternormen und der performativen Ausgestaltung von Gender und Identität. Auf der Bühne begeisterten die Darsteller:innen mit glamourösen Kleidern und exzentrischen Accessoires das urbane Publikum. Hinter der Bühne bildeten sie Banden und Freund:innenschaften, die sie auch im Privaten begleiteten und teilweise bei einer Geschlechtsangleichung stützten.
Aufnahmen aus dieser Zeit sind aktuell in der Ausstellung „Under Cover – A Secret History of Cross-Dressing“ im C/O Berlin zu sehen. In eindrücklichen Fotografien dokumentiert das Ausstellungshaus die vielfältige Geschichte des Crossdressings: von den frühen Wegbereiter:innen der Drag Queens bis hin zu den ersten Tomboys, die mit Kleidung und Habitus gegen die soziale Ordnung des Patriarchats aufbegehrten.
Fotokollektion von Crossdresser:innen
Kuratiert wurde die Ausstellung von dem französischen Regisseur Sébastien Lifshitz. Als er als Jugendlicher im Paris der 1980er Jahre begann, sich mit der eigenen queeren Identität auseinanderzusetzen, zog es ihn immer wieder auf die Flohmärkte der Stadt. Dabei stieß er auf Bilder von Personen, die mit Gender und Mode experimentierten. „Niemand interessierte sich für diese Aufnahmen. Queerness wurde als etwas Lächerliches gesehen“, sagt der Filmemacher im Interview mit der taz. Doch die allgemeine Ablehnung, auch in der eigenen schwulen Community, weckte das Interesse des damals 13-Jährigen. Über mehrere Jahrzehnte hinweg entstand in seinem privaten Archiv eine facettenreiche Fotokollektion, die Crossdresser:innen im Spiegel der Zeit seit 1860 zeigt. „Diese Menschen lebten in Zeiten mit strengen moralischen Werten, in denen es unmöglich war, die eigene innere Identität auszudrücken“, erklärt er. Denn die westlichen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts waren von einer streng binären Geschlechterordnung geprägt. Menschen, die den sozialen Geschlechterkonventionen trotzten, wurden verfolgt, pathologisiert – und schließlich vergessen.
In der Ausstellung möchte Lifshitz ihre Geschichten wieder zum Leben erwecken. Dabei wirft er vor allem ein Licht auf jene, die der breiten Öffentlichkeit bislang verborgen blieben. So etwa die Crossdresser:innen in den Kriegsgefangenenlagern des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Mit selbst organisierten Amateurtheatern versuchten einige inhaftierte Soldaten, sich vom Grauen des Krieges abzulenken. Für die Darstellung weiblicher Rollen griffen die Männer auf zeitgenössische Damenmode zurück. Burschikoser Kurzhaarschnitt und ein dezentes Make-up machten die Illusion perfekt. „Das Schauspiel war für sie ein Weg, um die Erinnerung, die sie an Weiblichkeit hatten, neu zu interpretieren“, so Lifshitz. Während der beiden Weltkriege wurde ihr Schauspiel öffentlich kaum beachtet, doch heute gehen Historiker:innen davon aus, dass Frauenimitationen integraler Bestandteil des Lagerlebens in der Sowjetunion, in Deutschland, Frankreich und den USA waren.
Während Crossdressing in der darstellenden Kunst – und selbst in Kriegsgefangenenlagern – weitgehend akzeptiert wurde, war das Tragen genderfluider Mode im Alltag weiter verpönt. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts veränderte sich in der westlichen Welt der Blick auf Geschlecht und Identität. Heute wird die Existenz einer binären Geschlechterordnung in den Gender Studies als veraltet betrachtet, Geschlecht wird als Spektrum begriffen und die sozialen Kleidungskonventionen lösen sich zunehmend auf. Während es für weiblich gelesene Personen noch vor einigen Jahrzehnten ein emanzipatorischer Akt war, Hosen zu tragen, gehören traditionell männlich konnotierte Kleidungsstücke heute in die Garderobe vieler Frauen. Und wenngleich Männer noch immer einem höheren gesellschaftlichen Sanktionsdruck unterliegen, verschieben sich auch bei ihnen die Grenzen des Tragbaren.
Nicht zuletzt durch eine popkulturelle Aufarbeitung scheint Crossdressing heute im Mainstream angekommen zu sein. Popstars wie Harry Styles oder Lil Nas X brechen mit Geschlechterklischees, die Castingshow „RuPaul’s Drag Race“ erzielt Millionenquoten und Instagram-Kanäle wie „butchisnotadirtyword“ haben Tausende Follower:innen. Auch Ausstellungen wie die von Sébastien Lifshitz tragen zur zunehmenden Akzeptanz bei. „Queere Geschichte war zu lange unsichtbar“, so der Kurator. „Es ist unsere Aufgabe, ihnen heute die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihnen lange verwehrt blieb.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands