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Ein bisschen Erleichterung

Mit seinem knappen Wahlsieg in Brasilien verhindert Luiz Inácio „Lula“ da Silva vier weitere Amtsjahre des rechtsradikalen Jair Bolsonaro. Doch dessen Bewegung bleibt stark

Eine Lula-Unterstützerin reagiert bei einer Wahlparty in Rio de Janeiro auf das Ergebnis Foto: Erica Martin/imago

Aus São Paulo Niklas Franzen

Als das Wahlergebnis auf der Pressekonferenz die Runde macht, können viele Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) die Tränen nicht mehr halten – es sind Freudentränen. Denn in diesem Moment ist klar: Luiz Inácio „Lula“ da Silva hat die Stichwahl zur brasilianischen Präsidentschaft gewonnen. Und vielleicht noch wichtiger: Der rechtsradikale Amtsinhaber Jair Bolsonaro wird keine weiteren vier Jahre regieren.

Die PT hatte am Sonntag in ein schickes Hotel im Zentrum São Paulos geladen. Neben der internationalen Presse waren auch prominente Gäste anwesend. „Für die Umwelt und Brasiliens Rolle in der Welt war Bolsonaro furchtbar“, sagte der ehemalige britische Labour-Chef Jeremy Corbyn der taz. „Außerdem hat er die Lebensgrundlage der Ärmsten zerstört.“

156 Millionen Bra­si­lia­ne­r*in­nen waren am Sonntag zur Wahl aufgerufen. Medien schrieben im Vorfeld von „der wichtigsten Wahl in der Geschichte Brasiliens“. Denn mit Bolsonaro und Lula standen sich die wahrscheinlich wichtigsten Protagonisten von Brasiliens Politik der vergangenen Jahrzehnte im direkten Duell gegenüber.

Am Ende war es ein denkbar knappes Wahlergebnis: Lula kam auf 50,9 Prozent der Stimmen, Bolsonaro auf 49,1 Prozent. Etwas mehr als 2 Millionen Stimmen trennten die beiden Kandidaten voneinander. Im Laufe des Tages mehrten sich besorgniserregende Berichte: Die Autobahnpolizei soll Menschen die Anfahrt zur Wahl erschwert haben. Zahlreiche Busse wurden angehalten, angeblich um Verbrecher aufzuhalten. Laut Lula-Anhänger*innen soll es sich um eine orchestrierte Aktion gehandelt haben. Die Autobahnpolizei steht Bolsonaro nahe, ihr Chef hatte noch am Sonntag bei Instagram zur Wahl des Rechtsradikalen aufgerufen.

Besonders auffällig: Die Aktionen fanden überproportional im Nordosten statt, wo die Mehrheit der Bevölkerung Lula unterstützt. Medien berichteten, dass die Polizeiaktionen bei einem Treffen im Präsidentenpalast geplant worden sein sollen. Trotz der mutmaßlichen Wahlbehinderung gewann Lula die Wahl.

Um 20.44 Uhr betritt der ehemalige Gewerkschaftsführer unter Jubel die Bühne im Hotel in São Paulo. Fäuste werden in die Luft gereckt, im Chor schallt es „Olé, olé, olé, olá, Lula, Lula“. Umringt von Po­li­ti­ke­r*in­nen und Ak­ti­vis­t*in­nen dankt Lula in seiner ersten Rede als frisch gewählter Präsident Gott. Danach hält er eine versöhnliche Rede. Er wolle Präsident aller Bra­si­lia­ne­r*in­nen sein – nicht nur für die, die für ihn stimmten. Lula versprach nichts weniger, als das tief gespaltene Land wieder zusammenzubringen. Doch einfach wird das nicht.

Bolsonaro lag zwar hinter Lula, erzielte aber ein starkes Wahlergebnis. Mit dem Bolsonarismus hat der amtierende Präsident eine überaus aktive Bewegung hinter sich. Außerdem schafften etliche Bolsonaro nahestehende Kan­di­da­t*in­nen den Einzug in die Parlamente. In São Paulo setzte sich ebenfalls am Sonntag der Bolsonaro-Kandidat Tarsício Freitas klar gegen den PT-Politiker Fernando Haddad durch. Damit werden die drei größten Bundesstaaten Brasiliens – São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais – künftig von Verbündeten Bolsonaros regiert.

In der Millionenstadt Belo Horizonte schoss ein Mann auf Men­schen, die den Wahl­sieg Lulas feierten

Eine Frau im roten Blazer steht neben Lula auf der Bühne: Es ist Dilma Rousseff, Brasiliens Ex-Präsidentin. „Dieser Sieg bedeutet viel für Brasilien“, sagt Rousseff, die 2016 durch ein juristisch fragwürdiges Amtsenthebungsverfahren ihren Posten als Präsidentin verlor. „Heute haben wir gezeigt, dass wir zurück sind“, sagt Rousseff der taz.

Das wollen nicht alle akzeptieren. In vielen Städten blockierten Last­wa­gen­fah­re­r*in­nen Autobahnen und erklärten, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen. Einige forderten eine Militärintervention. Auch in vielen Telegram-Gruppen rufen Bolsonaro-Fans ganz offen zum Putsch auf. In der Millionenstadt Belo Horizonte schoss ein Mann auf Menschen, die den Wahlsieg Lulas feierten. Ein 27-Jähriger starb, seine Mutter und eine Freundin wurden verletzt. Der Täter soll zuvor auf zwei weitere Frauen geschossen haben. Die Polizei prüft einen politischen Hintergrund. Bolsonaro selbst meldete sich nicht zu Wort. Doch viele prominente Verbündete des Präsidenten erkannten den Wahlsieg Lulas an.

Viel war im Vorfeld der Wahl über mögliche Gewalt diskutiert worden, einige hielten sogar einen Putschversuch für möglich. Denn Bolsonaro hatte seit Monaten Lügen über das elektronische Wahlsystem verbreitet und erklärt, nur Gott könne ihm die Präsidentschaft entziehen. Doch für einen offenen Bruch mit der Verfassung dürfte ihm die nötige Rückendeckung fehlen. Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft in Brasilien, kritische Medien, und die demokratischen Institutionen funktionieren immer noch. Auch im Ausland setzten viele auf die Abwahl Bolsonaros. US-Präsident Joe Biden zählte am Sonntag zu den ersten Gratulanten Lulas. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz gratuliert Lula, mit dem er sich noch im Mai 2021 in Berlin getroffen hatte.

Wenige Hundert Meter vom Hotel entfernt versammeln sich Zehntausende An­hän­ge­r*in­nen Lulas zu einer Siegesfeier: ein Meer aus Rot, Feuerwerk kracht in der Luft, es fließen Freudentränen. Windige Verkäufer preisen T-Shirts mit dem Konterfei Lulas an, auf Grills brutzeln Fleischspieße. Zélia Lucas Patricio, 57, eine Schwarze Frau mit Lula-Stickern auf dem weißen Blazer, ist aus dem armen Randgebiet ins Zentrum gekommen, um den Wahlsieg Lulas zu feiern. „Es ist ein Sieg der Demokratie“, sagt sie. Bolsonaro habe nichts für die Vorstadt gemacht, sei ein Präsident der Reichen. Auch der Lehrer Adriel Fernandes, 39, verspüre „große Erleichterung“. Zusammen mit seinen zwei Kindern ist er zur Wahlfeier gekommen. „Hoffentlich können wir jetzt zurück zur Normalität.“