Doppelter Drahtseilakt

Nach den Ausschreitungen im Hinspiel in Frankreich geht es bei der Partie der Eintracht Frankfurt gegen Marseille um weit mehr als nur um das Ergebnis

Die Frankfurter Fans in Marseille werden mit Feuerwerkskörpern attackiert Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Aus Frankfurt Frank Hellmann

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich gerade das Interview, das Michael Brehl den Vereinsmedien von Eintracht Frankfurt vor dem Champions-League-Heimspiel gegen Olympique Marseille (Mittwoch 21 Uhr/DAZN) gegeben hat. Noch immer liegt der Eintracht-Anhänger aus Friedrichsdorf im Krankenhaus, der beim Hinspiel in Marseille (1:0) nur knapp dem Tode entkam, als sich eine Leuchtrakete in seinen Körper bohrte. Mehrere Operationen hat der 65-Jährige hinter sich, der sich psychologische Hilfe geholt hat. Der mutmaßliche Täter ist inzwischen wegen versuchten Mordes angeklagt.

Die Ereignisse machen deutlich, wie gefährlich Pyrotechnik sein kann. „Der Einschlag am Hals ging so schnell, selbst die hochgerissene Hand hat nicht geholfen. Im Fallen habe ich schon gemerkt, dass ich halbseitig gelähmt bin“, erzählt Brehl. Wäre, wie zunächst vermutet, die Halsschlagader betroffen gewesen, hätte er kaum überlebt. Von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ sprach an jenem 13. September der nicht als einziger geschockte Eintracht-Präsident Peter Fischer.

Die Ausschreitungen gipfelten im Stade Velodrome mit dem gegenseitigen Beschuss von Raketen und Böllern, von beiden Lagern ausgiebig bejubelt, was alles konterkarierte, was Fankultur ausgemacht. Augenzeugen berichtete, dass sie eine derart aggressive Stimmung noch nie erlebt hätten. Dass aus Eintracht-Reihen zudem ein Hitlergruß gezeigt wurde, verschlimmerte die Eindrücke von dieser Partie. „Das ist absolut zu verurteilen und das Schießen von Pyrotechnik in andere Blöcke ist ein No-Go“, stellte Aufsichtsratschef Philip Holzer erneut in der FAZ klar.

Es mutete nicht nur wie ein Wunder an, dass es nicht mehr Schwerverletzte gab, sondern auch, dass die Dachorganisation Uefa auf eine Bestrafung des Europa-League-Siegers verzichtete, der doch eigentlich nach dem Platzsturm im Halbfinale gegen West Ham United auf Bewährung spielt. Erneut wurde auf harte Sanktionen verzichtet. Bei der nächsten Verfehlung aber sind Geisterspiele im Stadtwald unvermeidlich. So wird das Rückspiel gegen den französischen Vizemeister zum doppelten Drahtseilakt: Wollen die Hessen im Europapokal überwintern, sollten sie gewinnen. Die Form des Teams stimmt, wie der Auswärtssieg bei Borussia Mönchengladbach (3:1) zeigte. Vor allem die „vier Frankfurter Musketiere“ machen viel Spaß. Die durchsetzungsstarke Entdeckung Randal Kolo Muani, der neuerdings abschlussstarke Irrwisch Jesper Lindström, der feine Einfädler Daichi Kamada und der noch leise auf die WM-Teilnahme hoffende Edeltechniker Mario Götze garantieren in der Offensive gute Unterhaltung. Coach Oliver Glasner sieht darüber hinweg, dass ohne den verletzten Altmeister Makoto Hasebe die Defensive bisweilen arg wackelt. Mit einem Erfolg hätte es sein Team im letzten Gruppenspiel bei Sporting Lissabon (1. November) sogar noch in der eigenen Hand, ins Achtelfinale der Königsklasse einzuziehen. Aber wichtiger für weitere stimmungsvolle Europapokal-Nächte wäre es, dass am Mittwoch alles friedlich abläuft.

Bei der nächsten kleineren Verfehlung aber dürften Geisterspiele in Frankfurt unvermeidlich sein

Verbale Abrüstung kann da im Vorlauf nur helfen. Der vermutlich für sein weiteres Leben beeinträchtigte Brehl spielt dabei eine Schlüsselrolle, wenn er öffentlich versichert: „Ich habe keinen Zorn oder Wut auf irgendjemand. Eintracht Frankfurt hat eine Haltung: Wir verzeihen, wir sind tolerant, wir haben keine Revanchegelüste.“ Doch hilft sein Appell? Die tonangebenden Ultra-Gruppierungen haben bislang geschwiegen. Fanexperten wie Michael Gabriel äußerten sich zuletzt besorgt, das gerade unter den Frankfurter Ultras die Grenzüberschreitungen zunehmen, weil die Gewaltschwelle gesunken sei.

Holzer vertraut bei den konkreten Sicherheitsmaßnahmen auf die Arbeit der Exekutive. „Ich bin sicher, alle handelnden Personen werden das Notwendige unternehmen, um entsprechend vorbereitet zu sein.“ Für den 56-Jährigen war erschreckend, dass sich die Behörden in Marseille offenbar vor der gewaltbereiten Fanszene ergeben haben. „Nach dem Motto: Das ist bei uns Standard. Für mich hat sich da einmal mehr erkennen lassen, dass insbesondere der französische Staat in Bereichen Teile seiner Gesellschaft abgeschrieben hat“, so Holzer. „Und da kann ich nur sagen: Gnade uns Gott,dass wir dieselbe Entwicklung in Deutschland nicht erleben.“