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Alte Kerle mit Glatzen

Im eigenen fortgeschrittenen Alter beschäftigte sich Rudolf Steiner im Rahmen einer Vortragsreihe mit dem anthroposophischen Blick auf die späten Lebensjahre. Dabei kam er zu Erkenntnissen, die auch auf den heutigen Jugendkult anwendbar sind

Wandervögel um 1920 beim Abkochen im Wald. Rudolf Steiner erzählte den Jungen 1922 einiges übers Alter Foto: akg-images/picture-alliance

Von Wolfgang Müller

Rudolf Steiner war schon über sechzig, als er vor genau einhundert Jahren, im Oktober 1922, eine Vortragsreihe für ein junges Publikum hielt, das von Anthroposophie nur wenig Ahnung hatte. Dabei ging er intensiv auf die damals prägende Jugendbewegung, den „Wandervogel“ ein, aber überraschend viel sprach er auch über das Alter. Denn, so Steiner, da gebe es ein Problem: „Der gegenwärtig ältere Mensch ist nicht wirklich ‚alt‘. Er hat den Inhalt von vielem aufgenommen, er kann von vielem reden. Aber er hat das Viele nicht zur menschlichen Reife gebracht.“

Viele Alte versuchten, möglichst lange ihr Jungsein festzuhalten. Ganz falsch, meinte Steiner. Stattdessen gelte es zu begreifen, dass zwar im Alter die Kräfte nachlassen, es aber in anderer Hinsicht auch einen Zuwachs geben könne. Indem nämlich das Erlebte liebevoll durchgearbeitet und vertieft werde, könne das, was bei jungen Menschen oft noch angelernt und abstrakt klingt, eine andere Tönung bekommen, es könne beim reifen Menschen „warm“ klingen, „wirklichkeitsgesättigt, konkret, persönlich“. So ein Gegenüber ersehnten die Jüngeren, aber sie fänden es kaum noch. „Es ist eine inhaltslose Phrase, wenn gesagt wird: mit der Jugend muss man ‚jung‘ sein. Nein, man muss mit der Jugend in der rechten Art verstehen ‚alt‘ zu sein.“

Diese vorweggenommene Kritik des heutigen Jugendkultes könnte man auch so formulieren: Es gilt, die Veränderungen, die die Jahre bringen, nicht zu bekämpfen, sondern zu verstehen und zu gestalten.

Zentral dabei laut Steiner: „das immerwährende Lernen, das immerwährende In-Bewegung-Bleiben“. Man kann es tief symptomatisch finden, dass unsere Zeit dieses In-Bewegung-Bleiben nur noch körperlich fassen kann (Jogging) oder allenfalls als geistiges Erhaltungsprogramm („Gehirn-Jogging“), nicht aber als einen Wandlungsprozess, vielleicht gar einen Aufbruch und eine Öffnung zu anderen Dimensionen des Daseins. Nur von dort aber, meinte Steiner, könne die eigentliche Verjüngung kommen: „Selbstverständlich kann man sich nicht abgewöhnen, grau zu werden, aber man kann sich eine junge Seele holen aus den Quellen des spirituellen Lebens für den ergrauten Kopf.“

Das sind heute – und wohl schon damals – erklärungsbedürftige Worte. Sie führen in die Mitte der Anthroposophie. Diese geht davon aus, dass das menschliche Dasein in viel tieferen Schichten wurzelt, als dies heute meist gesehen wird. Darin ähnelt sie den Religionen, die auch eine geistig-göttliche Grundierung der materiellen Welt annehmen. Der Unterschied liegt darin, dass die Anthroposophie sich diesen Dimensionen nicht nur glaubend, sondern erkennend nähern möchte.

Die moderne Bewusstseinsdisposition, meinte Steiner, akzeptiere letztlich keine bloße Übernahme fremder Einsichten mehr, sie verlange eine eigenständige und persönliche Erkenntnisarbeit. An diesem Punkt wird die Anthroposophie oft attackiert, weil ein solch radikaler Erkenntnisanspruch oft als grandiose Überforderung gilt. Tatsächlich dachte Steiner in langen Zeiträumen. So wie die Naturwissenschaft seit Galilei hunderte Jahre brauchte, um sich zu entwickeln, so werde dies auch bei der Erforschung geistiger Zusammenhänge sein.

Wenn also manche, selbst im anthroposophischen Milieu, die Anthroposophie wie ein fertiges Weltbild betrachten, dann ist das ein krasser Irrtum. Sie ist ein Anfang, ein Impuls, sich selbst auf einen langen Weg zu begeben. Die Außenwelt wundere sich oft, erzählte Steiner einmal, dass ins Goetheanum, den Anthroposophen-Bau im schweizerischen Dornach, ständig eine so seltsame Schar ströme: „Da gehen zur Vorbereitung nicht Kinder hinein, sondern uralte Kerle mit Glatzen wollen noch immer vorbereitet sein. Ja, eine Schule, in die nicht Kinder gehen, sondern nur alte Leute, das muss ja ein Narrenhaus sein!“

Gewiss spielt bei diesem „immerwährenden Lernen“ auch eine Rolle, dass die Anthroposophie über die Grenzen des einzelnen Lebens hinausdenkt. So wie schon Lessing den Gedanken der Wiedergeburt erwog und fragte: „Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“ – so dachte auch Steiner: „Das Alter schreckt uns nicht, denn wir wissen, dass, wenn das Leben hier den Höhepunkt erreicht hat und der Leib zu welken anfängt, in ihm das Neuerrungene sich zu einem jungen Keime zusammenzieht, der einst zu reicherem Leben auf der Erde aufblühen wird.“

Etwas davon mag man auch in einem Lebensrückblick spüren, den der Dirigent Bruno Walter, der enge Freund Gustav Mahlers, mit 84 schrieb. Er haderte ein wenig damit, dass er in seinen frühen Jahren in Wien und München sozusagen immer wieder an Rudolf Steiner vorbeigelaufen war und erst lange nach dessen Tod auf die Anthroposophie stieß. Deren Kern, dass „alles Materielle die Offenbarung eines Geistigen“ sei, habe er immer geahnt. „Doch war mir bestimmt, meinen langen Weg ohne hilfreiches Eingreifen des Schicksals bis in meine Altersjahre hinein zu pilgern.“ Letztlich aber blieb nicht Bitterkeit, sondern eine tiefe Dankbarkeit für die späte, große Entdeckung. „So wurde mir das seltene Glück zuteil, noch einmal – alt wie ich war – ein Schüler zu werden.“