Russische Lokalpolitiker gegen den Krieg

Abgeordnete des Sankt Petersburger Bezirks Smolny und des Moskauer Stadtteils Lomonossow fordern Präsident Putin zum Rücktritt auf. Der eröffnet ein Riesenrad

Traditionell: Ein Wahlbüro während der derzeit stattfindenden Regionalwahlen im russischen Dorf Kokshaisk in der Republik Mari El Foto: Fo­to:­ Yegor Aleyev/imago

Aus Moskau Inna Hartwich

„Die Glückspilze“, sagt die Moderatorin des Moskauer staatlichen Fernsehsenders „Moskwa 24“ und strahlt. Es sind Wahlen in Russland – und der Sender verlost Autos. „Gestern 50, heute 30, morgen nochmals 20. Dazu gibt es noch Millionen weiterer Preise.“ Dafür müssen die Mos­kaue­r*in­nen online für ihre Bezirksabgeordneten abstimmen.

Der Begriff „Wahl“ aber führt in Russland seit Jahren in die Irre. Abstimmungen dienen lediglich der Bestätigung der bestehenden Macht und der Positionierung von kremlloyalen Kandidaten in allen Regionen des Landes. Wahlzettel werden gefälscht, Staatsangestellte zur Wahl gedrängt. Selbst die Systemopposition – also die Abgeordneten, die nicht der Regierungspartei „Einiges Russland“ angehören, bei Gesetzesvorhaben aber letztlich immer so abstimmen wie „Einiges Russland“ – hatte bei dieser Wahl kaum Gewicht. Viele unabhängige Oppositionelle wurden gar nicht erst zur Wahl zugelassen oder im letzten Moment von den Wahlzetteln gestrichen.

Am Samstag gab die Chefredakteurin von „Russia Today“ (RT), Margarita Simonjan, in einer Fernsehrunde zu verstehen, dass sie noch nichts über die Zerstörung der Ukraine gehört habe.

Zudem sagte Simonjan im russischen 24-TV-Kanal, dass das beste Bild von der Zukunft „ein gemeinsames Bild von der Vergangenheit“ wäre.

„Wenn Ukrainer und Russen alle zusammen sind, wenn der Tag des Sieges gemeinsam gefeiert wird, wenn es eine Parade gibt, wenn sowohl Russisch als auch Ukrainisch unterrichtet wird. Wenn Menschen Kokosnikas tragen und wunderbare Lieder in der einen und in der anderen Sprache singen, dann haben wir eine gemeinsame Zukunft“, fügte sie hinzu.

Putins zentrale Propagandafigur bezog sich auch auf den kürzlichen Rückzug russischer Truppen in der Ukraine und verglich ihn mit dem „großen Rückzug“ an der Ostfront im Ersten Weltkrieg. 1915 fanden mehrere Rückzugsaktionen der Kaiserlich Russischen Armee statt. Dadurch konnte Russland einen Teil des verlorenen Bodens zurückgewinnen. (taz)

Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, den der Kreml offiziell „militärische Spezialoperation“ nennt, haben zudem viele Liberale das Land verlassen. Harsche Gesetze bringen Kri­ti­ke­r*in­nen des russischen Feldzugs hinter Gitter. „Diskreditierung der Armee“ ist ein machtvolles Instrument, um alle, die etwas am Staat auszusetzen haben, zum Schweigen zu bringen. So ergeht es gerade auch sieben Abgeordneten des Sankt Petersburger Stadtbezirks Smolny. Vor wenigen Tagen hatten sie ein Ersuchen an die Staatsduma, das Unterhaus des russischen Parlaments, gerichtet. Darin fordern sie Russlands Präsident Wladimir Putin zum Rücktritt auf. Sie werfen ihm Staatsverrat vor, weil der Krieg in der Ukraine zum Tod russischer Soldaten, Schwierigkeiten in der russischen Wirtschaft und zur Erweiterung der Nato geführt habe.

Nikita Juferew, einer der Initiatoren, hatte bereits im Februar Putin offiziell dazu aufgefordert, den Krieg zu beenden. Daraufhin hatte ihn die Kremladministration darüber informiert, dass es sich in der Ukraine um eine „militärische Spezialoperation“ handele. Nun werden auch Jeferew und seine Mit­strei­te­r*in­nen wegen „Diskreditierung der Armee“ belangt. Zunächst droht eine Ordnungsstrafe, mehrere davon können zum Straftatbestand führen. Beide Stadtbezirke in Sankt Petersburg und Moskau gelten als liberaler und dadurch weniger kremlnah.

In dieser Atmosphäre der Angst und Apathie ist die Regionalabstimmung an drei aufeinanderfolgenden Tagen letztlich ein Spiel um Fahrzeuge, Metro-Karten und Ermäßigungen beim Kleiderkauf. Die Wahlbeteiligung ist niedrig, viele Rus­s*in­nen wissen gar nicht, dass eine Wahl stattfindet, vielen ist sie auch vollkommen egal, weil sie keinen Sinn in einer Abstimmung erkennen. In Moskau, so legen es offizielle Zahlen dar, seien 28 Prozent der Wahlberechtigen zur Stadtteilwahl gegangen. Die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation „Golos“ – von den russischen Behörden zum „ausländischen Agenten“ erklärt – berichtet seit Freitag von Manipulationen. Vor allem die elektronische Abstimmung sei fehleranfällig, weil jegliche Kontrolle darüber fehle.

Die Hauptstadt feiert derweil ihren Stadtgeburtstag, mit Aktionen für Kinder und der Einweihung eines Riesenrads, auch Putin sagte ein paar Worte vor dem Fahrgeschäft. Das Rad aber stellte den Betrieb nach ein paar Fahrten bereits wieder ein. Defekt. Die Wahl verkommt zu einer Farce und erinnert mit all den Wettkämpfen, der Tombola, dem Feuerwerk am Abend an Urnengänge in der Sowjetunion, die stets den Charakter einer Feier trugen, aber kein politisches Gewicht hatten. Die Fahnen an den Wahllokalen der Hauptstadt wehen, die Menschen aber versammeln sich viel lieber am Mini-Nachbau eines Flussterminals und schauen den Modellbooten beim Rennen zu.

Vor allem die vom Kreml abgesetzten oppositionellen Kan­di­da­t*in­nen versuchen, ihren Nachbarn zu vermitteln, dass eine Wahl auch Protest sein kann. Gehört werden sie kaum. Einer der sieben Petersburger Abgeordneten schrieb am Sonntag auf Twitter: „Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Bezirksabgeordneten in Smolny von echten Menschen gewählt wurden, die in die Wahllokale gingen. Alle Abgeordneten, die das Ersuchen an die Staatsduma gerichtet hatten, wurden von der „Smart Voting App“ (die App, die von Anhängern Alexander Nawalnys als Anti-Kreml-Wahltaktik entwickelt wurde, Anm. d. Red.) empfohlen. Das hat uns sehr geholfen. Stimmen Sie bitte ab, es macht Sinn.“