: Das Leben schreibt nur Trauerspiele
In der Nobelherberge „Hanseatischer Hof“ hat das Theater Lübeck Raphaela Bardutzkys Hotel-Schauspiel „Das Los“ uraufgeführt
Von Jens Fischer
First-Class-Gefühle wollen Online-Übernachtungsdealer wecken, wenn sie die 4-Sterne-Herberge „Hanseatischer Hof“ inklusive Kongresszentrum als „schick“ und „elegant“ beschreiben. Live vor dem Gebäudekomplex stehend sorgt die Kraut-und-Rüben-Architektur allerdings erst mal für wenig Freude. Im Inneren wird immerhin retro-edel mit Kirschbaummöbeln, schallschluckend dick belegten Fußböden und kühlem Steindesign argumentiert.
In dieses Etablissement lockt nun das Theater Lübeck zum Start einer neuen Premierenreihe, die urbane Orte für Themen der Stadtgesellschaft erobern soll. Die gezeigte Uraufführung eines Auftragswerks passt prima in die leicht angeberische Unterkunft mit den etwas reicheren Gästen. Denn Autorin Raphaela Bardutzky will mit ihrem Stück „Das Los“, so der erste Eindruck, etwas über soziale Spaltung erzählen und porös gewordene Klassenunterschiede desavouieren. Also konkret darauf hinweisen, dass in vielen solcher Hotels steile Hierarchien herrschen zwischen Gast und Gastgeber, Direktion und Dienerschaft, Besser- und Schlechterverdienenden.
Das Publikum wird im großen Festsaal platziert, auf dessen Bühne und am Geländer der Empore. Müllsäcke, leere Getränkedosen, umgekippte Stühle, Plastiktüten, Servietten, Chipstüten zieren den Boden. Eine wilde Party scheint vorbei. Das „Jubiläum des Bauernverbandes“ sei gefeiert worden, heißt es. „Kleinvieh macht auch Mist“, lautet der Kommentar von Servicekraft Hans.
Schmerzhaft amüsant sind hingegen die Auftritte der Hotelmanagerin. Im polterig arroganten Tonfall und mit Lächelfratze weist sie einen neuen Kollegen ein und erklärt, dass bei Frauen der Dutt, bei Männern Schlips und Scheitel angesagt seien. 22 Millimeter dürfe die Fingernagellänge nicht überschreiten. „Und wir bedienen hier mit individuellem Interesse und echter Herzlichkeit.“ Wer ein Glas nachschenke, habe das mit Hingabe und Leidenschaft zu tun. Bis jemand volltrunken und weiteres Kredenzen verboten sei. Mit der Einschätzung dieses Zustandes müsse sich der Kellner allerdings die gesamte Hierarchietreppe hinauf absichern.
Ist das sozialrealistisches Dokumentartheater? Machen die Servicekraftdarsteller doch nichts anderes, als ihre Vorbilder auch tun: aufräumen, saugen, putzen, ein- und abdecken. Dann folgt, stets wohltuend ausgeblendet, das nächste Gelage und daraufhin die erneut abwechslungslose Reinigungsarbeit. Viel mehr passiert nicht auf der Bühne. Wohl mit Absicht. Denn diese Arbeitswelt ist halt öde. Ihre Protagonist:innen hätten es verdient, als komplexe Charaktere ausgearbeitet zu werden, sind aber eher Stereotype. Servicekraft Maria wirkt überfordert mit Arbeit und Familie, Kollege Peter ist durch Spielsucht zum Sozialfall geworden und Hans nach dem Tod des Lebenspartners ein Phrasendrescher mit Ausbruchsgelüsten. Die Managerin büßt mit Einsamkeit für ihre Lebensentscheidung für Karriere und gegen Kinder. Dass die Schauspieler:innen aus dem dürftigen Dialogmaterial vital verlorene Figuren entwerfen, spricht für Regisseurin Catrin Mosler und die Qualität des Ensembles.
Raphaela Bardutzky will ihr Werk mit einem dramaturgischen Kniff in Gestalt einer männlichen Lottofee in Fahrt bringen, „Gespenst des Kapitalismus“ genannt. Mit glitzernder Lottoziehungskugel ruiniert es die Tischarrangements und spricht Maria auf den Jackpot von 22 Millionen Euro an, den sie kürzlich geknackt und bisher verschwiegen habe. Es folgen Erklärungen, wie man das Geld an Ehemann und Steuer vorbeischleusen kann. Schließlich fantasiert sich Maria in die Annehmlichkeiten des Reichtums. Wohl nur ein Traum. Den aber alle Figuren träumen – und Lotto spielen. Gewaltig überschätzt werden die sehr geringen Gewinnchancen, denn sie wollen ihr soziales Los abstreifen, als marginalisierte Lakaien unbedingt selbst einen Platz an der Sonne einnehmen.
Laut einer Studie des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung hat Lotto als Erfüller dieser Sehnsucht gerade auf untere soziale Schichten eine große Anziehungskraft, weil bei diesem Glücksspiel allein der Zufall den Erfolg begründet, vor dem alle die gleichen Chancen haben. Dieses Aufstiegsversprechen näher zu beleuchten, könnte reizvoll sein. Bardutzky aber bleibt bei der schlichten Behauptung, Ärmere haben große Lust, reich zu werden. Da der freche Humor dabei nur glimmt und die vielfach als musikalisch gelobte Sprachspielkunst der Autorin nicht funkelt, ist „Das Los“ inhaltlich etwas dünne und szenisch ein bisschen fade.
Immerhin knüpft das Stück noch an die Literaturgeschichte an, in der Hotels als Orte für Verwandlungen genutzt werden. So entdecken die Angestellten am Ende, dass die neidvolle Fixierung aufs Geld bisher kollegiales Miteinander verhindert hat. Sie verlassen also ihre zwischenmenschliche Sprachlosigkeit, finden als Solidargemeinschaft erstmals zueinander und plündern vielleicht den Gin-Tonic-Vorrat des Hotels, um anschließend Aktionen gegen die Besitzer zu planen. Gibt es doch ganz konkret eine traurige Vorlage für die angestimmte Kapitalismuskritik: Der „Hanseatische Hof“ wurde während der Proben von der einen an eine andere Investorengesellschaft verkauft. Alle 60 Mitarbeiter erhielten ihre Entlassungspapiere. Die meisten Investoren sind bekanntlich nicht am Wohlergehen von Menschen oder Städten interessiert, sondern an maximalem Gewinn. Und der ist vor Ort vielleicht gerade mit Eigentumswohnungen oder einem höherpreisigen Seniorenheim zu erzielen.
„Wir bedauern diese Entscheidung außerordentlich, da sie den plötzlichen Jobverlust für die Mitarbeiter:innen und eine ungewisse Zukunft für die Quartiersentwicklung in St. Lorenz Nord bedeutet“, so Schauspieldirektor Malte C. Lachmann. Um all das zu diskutieren, werden Nachgespräche mit Menschen aus dem Hotel angeboten für alle Oktober-Vorstellungen. Wo die Produktion nach Schließung des Hauses gezeigt wird, steht noch nicht fest.
„Das Los“, Theater Lübeck, 3. und 23. 10., 18.30 Uhr, sowie 15. 10., 19.30 Uhr, im Hotel „Hanseatischer Hof“, Wisbystraße 7–9, Lübeck
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