Dekolonialisierung im Rathaussaal

In einer großen Anhörung widmet sich die hannoversche Lokalpolitik dem Umgang mit der kolonialen Vergangenheit und stellt erschrocken fest: Es geht um viel mehr als ein paar Straßennamen. Und nun?

Wuchtige Erinnerung an einen Verbrecher: das Carl-Peters-Denkmal in Hannover Foto: Michael Trammer

Von Nadine Conti

Nun ist das Thema also auch in der hannoverschen Lokalpolitik angekommen: Am Freitag haben sich mehrere Ausschüsse im Rat der Stadt in einer großen Anhörung mit dem Thema „Dekolonialisierung in Hannover“ befasst. Diese Anhörung hat – wie das in der Lokalpolitik so ist – natürlich einen langen Vorlauf gehabt, schon im Februar hatte die Fraktion von „Die Partei & Volt“ sie beantragt. Ihr Pech ist, dass sie nun in eine Zeit fällt, in der viele glauben, Dringenderes zu tun zu haben und sich das öffentliche Interesse in Grenzen hält.

Anlass war damals der wiederholte Streit um die Umbenennung der Walderseestraße. Es gibt in Hannover vor allem zwei grobe Klötze, die aus der Kolonialzeit in die Gegenwart hinein ragen und an denen sich immer mal wieder Streit entzündet. Das sind das Carl-Peters-Denkmal in der Südstadt und das Waldersee-Denkmal und die dazugehörige Straße im Stadtteil List, am Stadtwald Eilenriede. Beide liegen zentral, in gutbürgerlichen Stadtteilen.

„Hänge-Peters“, der für seine Gewalt- und Sexualverbrechen im sogenannten „Deutsch-Ostafrika“ selbst im Kaiserreich zeitweise in Ungnade fiel, später aber von kolonial-revisionistischen Kreisen und Nationalsozialisten verehrt wurde, liegt in Hannover auch begraben.

Um das in der NS-Zeit aufgestellte Denkmal für ihn in der Südstadt gibt es immer mal wieder Diskussionen. 1988 wurde es durch eine Tafel ergänzt, die Peters als Kolonialverbrecher einordnet – sie kommt gegen das wuchtige Denkmal aber optisch kaum an. Immerhin wurde der Platz drum herum in Bertha-von-Suttner-Platz umbenannt.

Das Waldersee-Denkmal – es zeigt den Feldmarschall als Ritter, der den chinesischen Drachen zertritt – stammt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Waldersee ist verantwortlich für Kriegsverbrechen in China, wo seine Truppen 1900 bis 1901 brandschatzend, mordend und vergewaltigend durch chinesische Dörfer zogen, um den Boxer-Aufstand niederzuschlagen. Auch hier hatte es mehrfach, zum Beispiel 2013 und Ende 2020, Debatten um Umbenennungen oder Texttafeln zur Einordnung gegeben. Eine Entscheidung wurde jedoch immer wieder vertagt. Ein Expertenbeirat soll nun über diesen und weitere Straßennamen beraten.

Ein solches Gremium hatte Hannover schon einmal eingerichtet, um die Straßenpläne nach Namen aus der NS-Zeit zu durchforsten. Von den Empfehlungen wurde bis heute allerdings nur ein Bruchteil umgesetzt. Vor allem um die Hindenburgstraße wird weiter vor Gericht gestritten. Diese Streits wurden hingebungsvoll auch immer in der Lokalpresse und auf den Leserbriefseiten der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) ausgefochten –im Hinblick auf die Kolonialverbrechen oft mit dem Tenor: „Was kommt denn als Nächstes?“

Das ist kein großes Wunder, wenn man bedenkt, dass es sich bei dieser Auseinandersetzung nicht zuletzt auch um einen Generationenkonflikt handelt. Das wird in der Anhörung besonders deutlich, als Professor Tim Cole von der Universität Bristol über die Erfahrungen dort berichtet. Nachdem in Bristol die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston durch Demonstrierende im Zuge der Black-Lives-Matter-Demons­trationen ins Hafenbecken gestürzt worden war, setzte eine intensive Diskussion über den Umgang mit der geborgenen Statue und der leeren Plattform ein. Die Uni begleitet dies mit einem Forschungsprojekt und intensiven Befragungen in allen Vierteln und Schichten der Stadt.

Ob denn dabei ein Unterschied feststellbar sei zwischen alteingesessenen Bürgern und Menschen mit Migrationsgeschichte, will der AfD-Vertreter im Ausschuss von Cole wissen. Nein, erklärt der Brite freundlich. Weder Ethnizität noch Einkommensniveau hätten einen signifikanten Unterschied gemacht. Das Alter aber schon: Ältere Schwarze hätten den Sturz der Statue genauso als falsch empfunden wie ältere weiße Einwohner von Bristol und sich eine andere Art der Auseinandersetzung gewünscht. Jüngere Menschen hätten dem Sturz ins Hafenbecken eher applaudiert.

In Hannover machen die Vertreter­:innen der hiesigen jüngeren Generation deutlich, dass es für sie um sehr viel mehr geht als bloß ein paar Straßennamen oder Denkmäler. Ver­tre­te­r:in­nen von Decolonize Hannover und dem neugegründeten Dachverband Generation Postmigration fordern ein Aufbohren der bisherigen Erinnerungs- und Gedenkkultur, ein Sichtbarmachen anderer geschichtlicher Protagonist:innen, aber auch Räume und Beteiligungsformate, die endlich die Erfahrungen und das Wissen von Communities jenseits der weißen Mehrheitsgesellschaft aufnehmen.

„Hänge-Peters“, der für seine Gewalt- und Sexualverbrechen selbst im Kaiserreich zeitweise in Ungnade fiel, liegt in Hannover auch begraben

Der Umgang oder vielmehr die fehlende Auseinandersetzung mit kolonialer Geschichte hat Rückwirkungen auf die Stadtgesellschaft heute, mahnt etwa Innawa Bouba von der Generation Postmigration. Man könne heutige Migration und Flucht nicht losgelöst davon betrachten. Die Initiative hält die Einrichtung eines Beirates für dringend angebracht. „Ohne eine andere Ressourcenverteilung wird es nicht gehen“, sagt auch Katherine Arp von Decolonize Hannover.

Mehr Engagement und mehr Ressourcen fordern allerdings auch die akademischen Vertreter:innen, die als wissenschaftliche Expert:innen in der Anhörung vertreten sind – darunter sind Johanna Blokker von der Uni Cottbus-Senftenberg als Vertreterin der Denkmalpflege, Brigitte Reinwald, Professorin für afrikanische Geschichte an der Leibniz-Universität Hannover, und ihr Vorgänger, der längst emeritierte Professor Helmut Bley, der das Fach in Hannover überhaupt erst etabliert hat. Sie plädieren vor allem dafür, den wissenschaftlichen Austausch zu intensivieren, um sich aus der extrem eurozentristischen und damit immer auch Leute zu Opfern machenden Sichtweise zu lösen.

Die Rats­po­li­ti­ke­r:in­nen wirken angesichts dieser streckenweise sehr akademischen Vorträge fast eingeschüchtert und ein wenig unbehaglich angesichts der Dimensionen des Themas. Ihre Nachfragen beschränken sich auf die kleinen Brocken, die lokalpolitisch rasch handhabbar sind: „Sie haben da eine Kampagne gegen das N-Wort erwähnt, wie könnte die denn aussehen?“, „Können wir so eine Umfrage wie in Bristol hier auch machen?“, „Meinen Sie eine bezahlte Koordinierungsstelle?“

Das liegt aber vielleicht auch an dem Format dieser Anhörung, bei dem viele Expert:innen dicht getaktet nacheinander vortragen und wenig Raum für Fragen und Diskussionen bleibt. Es wird – so viel dürfte am Ende jedem klar geworden sein – aber ohnehin nicht die letzte Debatte in dieser Sache sein.