: Belastetes Verhältnis
Die Menschheit mutet dem Planeten zu viel Stickstoff zu. Allen voran die Landwirtschaft muss effizienter düngen. Und es gibt weitere Ansätze gegen die umweltschädliche Überdosis
Von Anne Preger
Friedhelm Taube rammt den Spaten beherzt in die Wiese. Das ist gar nicht so einfach, weil der Boden ziemlich trocken und gut durchwurzelt ist. Aber als Agrarprofessor hat Taube auch mit dem Spaten Routine, und schließlich liegt ein Stückchen Wiese samt Wurzeln und Erde auf dem Spatenblatt. „Ich nehme mal eine Kleepflanze raus“, sagt er, greift nach der Pflanze und schüttelt die sandige Erde aus den Wurzeln. „Daran sehen wir so kleine Knöllchen.“ Darin leben ganz besondere Kleemitbewohner, die Rhizobien.
Diese Bakterien besitzen eine in der Natur seltene Superkraft: Im Gegensatz zu menschlichen Düngerwerken brauchen sie kein teures Erdgas, um Stickstoffdünger herzustellen. Anstatt wie die Industrie auf hohe Temperaturen und hohen Druck zu setzen, lassen Rhizobien ein bestimmtes Enzym arbeiten. Die Nitrogenase schafft es, den gigantischen Stickstoffvorrat der Luft anzuzapfen, indem sie die beiden Stickstoffatome des Luftstickstoffs auseinanderreißt und damit für Lebewesen in eine nutzbare chemische Form bringt.
„Damit dieser Kraftakt gelingt, werden Bakterien von der Pflanze mit wasserlöslichen Kohlenhydraten und Zuckern versorgt“, erklärt der Forscher von der Uni Kiel. „Und im Gegenzug liefern sie Stickstoff an die Pflanze.“ Eine Win-Win-Situation für Klee und Bakterien – und für alle Lebewesen, die am Klee knabbern oder die im Boden dessen proteinreichen Überreste zersetzen, was die Fruchtbarkeit des Bodens und die Erträge späterer Ernten erhöht.
Dass Kleeanbau Kühe und Ernten fetter macht, bemerkten Landwirte in Schleswig-Holstein und anderswo in Europa schon im 17. Jahrhundert. Doch taugt die Rückbesinnung auf den guten alten Klee auch für eine ertragreiche Landwirtschaft nach heutigen Standards? Den Studienergebnissen von Friedhelm Taube und seinem Team am Uni-eigenen Versuchsgut für ökologischen Landbau zufolge: ja! Die rund 100 Kühe des Lindhofs stehen zwischen März und November nach einem bestimmten System auf der Weide und fressen dort Klee und andere Kräuter. Die Gülle aus der Zeit im Stall wird zum Teil für die Düngung von Getreidefeldern eingesetzt. Das System nennt sich ökoeffiziente Weidemilcherzeugung.
„Wir kommen ohne Probleme auf die Durchschnittsleistung konventioneller Betriebe, mit wesentlich geringeren Kosten und höheren Erlösen pro Kilogramm Milch“, sagt Friedhelm Taube. Im Vergleich zu einer konventionellen Stallhaltung ist Milch vom Lindhof nach Analysen der Uni Kiel nicht nur deutlich klimafreundlicher, beim Anbau des Viehfutters, der Haltung der Kühe und der Nutzung der Gülle wird außerdem weniger als halb so viel reaktiver Stickstoff freigesetzt.
Mit reaktivem Stickstoff sind unter anderem Nitrat, Ammoniak, Stickoxide und Lachgas gemeint. Der Cocktail aus diesen Verbindungen entfaltet eine ganze Reihe von Wirkungen, er verschmutzt Wasser und Luft, er erwärmt auf mittlere Sicht die Erde, lässt Menschen früher sterben, verringert die Artenvielfalt und schädigt die schützende Ozonschicht. Die Menschheit heizt das Problem an: Vor allem durch Herstellung von Kunstdünger mithilfe des Haber-Bosch-Verfahrens bringt sie inzwischen jedes Jahr mehr reaktiven Stickstoff in den irdischen Umlauf als alle natürlichen Prozesse zusammen. Diese Dosis überfordert den planetaren Stoffwechsel. Oder wissenschaftlich ausgedrückt: Laut einer Analyse von 2009 ist die planetare Belastungsgrenze für Stickstoff deutlich überschritten.
Der meiste reaktive Stickstoff wird bei der Herstellung von Lebensmitteln freigesetzt. Dabei landen Studien zufolge global gesehen im Schnitt weniger als 20 Prozent des eingesetzten Düngerstickstoffs am Ende auf dem Teller, also am vorgesehenen Ort. Ein großer Teil der Verluste passiert schon beim eigentlichen Düngen.
„Weltweit werden im Schnitt ungefähr 50 Prozent des gedüngten Stickstoffs nicht von den angebauten Pflanzen aufgenommen“, sagt Benjamin Bodirsky, Wissenschaftler am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, kurz PIK. „Durch eine besser dosierte und platzierte Düngung könnte man diese Verluste jedoch durchaus halbieren.“ Auch die deutsche Landwirtschaft produziert in Sachen Stickstoff noch verlustreich Nahrung. Um gegenzusteuern und effizienten Stickstoffeinsatz zu fördern, bietet es nach Ansicht von Bodirsky politisch an, eine Stickstoffüberschussabgabe einzuführen.
Beim zielgerichteten Düngen können unter anderem Satelliten und Sensoren helfen. Durch genaue Bodenkarten und satellitengestützte Positionsbestimmung ist Präzisionslandwirtschaft möglich. So lässt sich mit möglichst geringen Stickstoffverlusten auf einer Fläche viel ernten – vorausgesetzt Betriebe können sich die Technologie leisten und es fällt genügend Regen.
Nach Ansicht von Experten wie Matin Qaim kann auch Pflanzenzüchtung helfen, die Überlastung der Erde mit Düngerstickstoff zu verringern. „Moderne Züchtungsmethoden, die Genomeditierung nutzen, haben das Potenzial, nicht nur die Erträge, sondern insbesondere auch die Nachhaltigkeit der Produktion zu steigern“, sagt der Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung an der Uni Bonn. Im Jahr 2018 hat beispielsweise ein chinesisches Forschungsteam eine geneditierte Reissorte vorgestellt, die Düngerstickstoff besser aufnimmt und verwertet, was hohe Erträge mit weniger Düngung ermöglicht. In China ist die Sorte bereits kommerziell erhältlich.
Damit nicht nur das Grundwasser, sondern auch die Luft sauberer wird, gibt es eine Reihe von Ansätzen in der Tierhaltung. Eine bestimmte Art der Fütterung, Luftfilter am Stall oder die Behandlung von Gülle mit Säure oder anderen Zusätzen können helfen, dass deutlich weniger Ammoniak entsteht. Dieses Gas bildet zusammen mit Stickoxiden ungesunden Feinstaub, Wind und Regen tragen diese Stickstofffracht in die Umgebung, wo sie die Natur überdüngt und Böden versauert.
Ammoniak dünstet vor allem aus tierischen Ausscheidungen aus, und zwar dann, wenn Bakterien im Kot von Tieren den Harnstoff aus dem Urin verarbeiten. Deswegen ist es durchaus ernstgemeinte Wissenschaft, wenn deutsche und neuseeländische Forschende Kühen beibringen, im Stall „aufs Klo“ zu gehen und ihren Urin so getrennt von ihrem Kot abzulassen. Und auch der Einsatz von vorbehandeltem menschlichem Urin als Dünger kann helfen, den Nährstoffkreislauf zwischen Acker, Teller und Toilette wieder zu schließen.
Wie das Beispiel vom Lindhof zeigt, hat ökologische Landwirtschaft gerade bei Milch durchaus das Potenzial, mit geringen Stickstoffverlusten Lebensmittel zu produzieren. Doch pro Kilogramm Lebensmittel gerechnet sind Bioprodukte in Sachen Stickstofffreisetzung nicht per se umweltfreundlicher als Ware aus konventionellem Anbau. „Die ökologische Landwirtschaft muss im Grunde auch noch effizienter werden und die Kreisläufe besser schließen“, sagt der PIK-Forscher Benjamin Bodirsky.
Er hat aber auch eine gute Nachricht: „Wir haben 2020 in einer Studie gezeigt, dass es möglich ist, bis zu zehn Milliarden Menschen auf dem Planeten innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen satt zu bekommen. Also zumindest theoretisch, wenn alles dahin verteilt wird, wo es gebraucht wird.“
Dafür müssten laut der PIK-Studie aber nicht nur Lebensmittel Stickstoffeffizienter hergestellt werden, es dürften nur noch weniger Lebensmittel im Abfall landen. Und für die meisten Menschen in Deutschland würde sich die Ernährung verändern: mehr pflanzliche Produkte und spürbar weniger tierische auf dem Teller. Denn bei der Herstellung von Fleisch und Co wird die Umwelt stärker mit Stickstoffverbindungen belastet. Gesünder für Menschen und den Planeten wäre auch eine Energie- und Mobilitätswende weg von der Verbrennung fossiler Energieträger. So werden nicht nur Treibhausgase eingespart, sondern auch deutlich weniger ungesunde Stickoxide freigesetzt.
Die planetare Stickstoffbelastung steht inzwischen auch international im Rampenlicht der Politik: Im März 2022 haben sich 193 Länder in der Umweltversammlung der Vereinten Nationen in Nairobi darauf geeinigt, die Belastung der Erde mit überschüssigem reaktiven Stickstoff bis zum Jahr 2030 „signifikant zu reduzieren“. Für den schottischen Umweltwissenschaftler und Leiter eines großen UN-Projekts für nachhaltiges Stickstoffmanagement, Mark Sutton, ist die Resolution ein wichtiger Schritt: „Sie zeigt, dass Regierungen aufwachen und die Stickstoffherausforderung erkennen. Aber auch die Chancen!“
Dabei spielen sicherlich auch finanzielle Überlegungen eine Rolle. Wer Stickstoffdünger effizient einsetzt, um Lebensmittel zu produzieren, spart bei den aktuell rekordhohen Düngerpreisen viel Geld. Das käme auch der Allgemeinheit zugute. Wie Sutton in einem Fachteam abgeschätzt hat: Würde die Belastung der Erde mit „Stickstoffabfällen“ bis 2030 halbiert, ließen sich dadurch jährlich etwa 100 Milliarden US-Dollar an Kosten durch Krankheit und Umweltschäden vermeiden.
Anne Preger ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin von „Globale Überdosis. Stickstoff – die unterschätzte Gefahr für Umwelt und Gesundheit.“ Erschienen Ende August im Quadriga Verlag.
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