Ein Mensch voller Leben, der frei sprach

Erich Honecker, Leonid Breschnew, Konstantin Ustinowitsch Tschernenko – ich war zwanzig Jahre alt und wurde bis dahin mein ganzes Leben lang von Untoten regiert. Bis zum März 1985 war das so. Dann kam Michail Sergejewitsch Gorbatschow.

Er war ein Mann, der in seiner Jugend Mähdrescher gefahren ist, so wie ich es in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft getan hatte. Ein Mensch voller Leben, verheiratet mit einer Frau, nicht mit der Partei. Einer, der frei sprach und Wörter benutzte, die ich nie gehört hatte, obwohl ich in der Schule Russisch hatte. „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“, rief er uns von Moskau herüber. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!“, hatten uns unsere Geschichtslehrer damals eingebläut. Jetzt gaben wir es ihnen lachend zurück. Wir brüllten „Gorbi! Gorbi!“ im Leipziger Herbst 1989. Und dann kam: „Wer zu spät kommt …“

Der Rest ist Geschichte. Ich selbst bin ihm nie begegnet, doch Gorbatschow hat auch mein Leben verändert. Was haben sie uns damals nicht alles erzählt, von den Volksmassen und den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Dass aber ein einzelner Mensch das System zum Einsturz bringen kann, kam in ihrer stolzen Lehre nicht vor. Dass es schließlich ein Genosse war, haben sie ihm nie verziehen. Thomas Gerlach