Körperkunst in Polynesien: Heilige Tinte
Tattoos waren in Polynesien von höchster kultureller Bedeutung, wurden aber lange von der Kirche verboten. Nun erlebt die Körperkunst eine Renaissance.
D er Gesang einer Gruppe von Frauen und Männern erfüllt den kleinen Hafen von Tahuata. Begleitet von Trommeln und Ukulelen, gekleidet in farbigen Gewändern, begrüßen die Künstler*innen im Licht der Nachmittagssonne die Gäste eines Kreuzfahrtschiffes. Wer ein Klischeebild eines Südseeparadieses sucht, findet es hier in den Marquesas-Inseln von Französisch-Polynesien.
Die Frauen tragen selbstgemachte Kränze auf den Köpfen, geflochten aus farbigen Blumen und grünen Blättern. Umrandet von dichtem Urwald, gesäumt vom kristallklaren Wasser des Südpazifiks, liegt Tahuata buchstäblich am Ende der Welt. Über drei Stunden Flug sind es in die Hauptstadt Papeete auf Tahiti, Tage mit dem Schiff. Luftlinie liegt die Insel näher an Südamerika als an Australien.
Doch es sind nicht nur die exotischen Klänge, die den Besuchern zeigen, wo sie angekommen sind. Spektakuläre Tätowierungen schmücken die Sänger*innen. Nur schwarz, keine Farben, aber exakt gestochene, schematische Muster zieren große Teile ihrer Körper – schnurgerade Motive oder auch schwunghafte. „Jedes Symbol hat eine Bedeutung für uns“, erklärt eine junge Frau einer neugierigen Touristin. „Es zeigt, wo ich herkomme, wer meine Ahnen sind, es zeigt den Kreis des Lebens.“
Noch bis vor ein paar Jahrzehnten hätten Besucher Polynesiens kaum je solche Tattoos gesehen, erklärt die gebürtige Schweizerin Heidy Baumgartner. Die Expertin für polynesische Felskunst lebt seit den achtziger Jahren in Tahiti. „Als ich hier angekommen bin, gab es kein einziges Tattoo“, erinnert sie sich. Erst nach ein paar Jahren sah sie zum ersten Mal einen traditionell geschmückten Mann: „Er war von Kopf bis Fuß tätowiert“, sagt die Wissenschaftlerin.
Dabei war das Tattoo über Jahrhunderte ein unverzichtbarer Bestandteil traditioneller Kultur und Religion unter den Völkern Polynesiens. Die begabten Seefahrer, die das „polynesische Dreieck“ im Verlauf der Jahrhunderte besiedelt hatten, entwickelten auf den isolierten Inseln des Pazifiks ein reiches Geflecht von Kulturen, unter denen Tätowierungen eine wichtige, ja zentrale Rolle spielten. Das Wort „Tattoo“ stammt vom polynesischen Wort „tatau“, das bis heute verwendet wird – von Tahiti bis Tonga. Der britische Entdecker James Cook hatte den Begriff nach seiner Reise nach Polynesien im Jahr 1771 nach England gebracht. Ein tätowierter Tahitianer namens Ma’i begleitete Cook damals zurück nach London. Seither ist das Wort im Westen bekannt.
Da es in der polynesischen Kultur historisch keine Schrift gab, waren Tätowierungen eine wichtige Form der Kommunikation. Laut dem führenden amerikanische Tattoo-Anthropologen Lars Krutak zeigten sie den sozialen Status des Trägers, die Geschlechtsreife, die Herkunft und den Rang einer Person. So waren in der traditionell sehr hierarchischen polynesischen Gesellschaft fast alle Erwachsenen tätowiert – ob in Samoa, Tonga, oder die Maori im heutigen Neuseeland (Aotearoa).
So vielseitig die Völker Polynesiens sind, so vielseitig sind auch die spirituellen, kulturellen und gestalterischen Hintergründe dieser permanenten Form von Körperkunst. Praktisch alle Völker dort aber glaubten, Tätowierungen seien „ein Geschenk des Himmels an die Menschheit“, so Anthropologen. Einer tahitianischen Legende zufolge waren die Söhne von Ta’aroa, dem obersten Schöpfer, die ersten Wesen, die sich tätowierten.
Auch die verwendeten Muster und ihre Platzierung am Körper galten als heilig und unterlagen strikten Regeln. Zwar unterscheiden sich die Tätowierungen von Inselkette zu Inselkette. Oftmals sollten Motive das „Mana“ bewahren, die in den polynesischen Völkern bis heute wichtige „göttliche Essenz“. Von ihr nahm man an, dass sie die Gesundheit, das Gleichgewicht und die Fruchtbarkeit bestimme. So war das Anbringen von Tattoos immer auch mit „Tapu“ belegt. Auch dieser Begriff, der im übertragenen, weitesten Sinne „Verbot“ bedeutet, hat seinen Weg in die westliche Welt gefunden –„Tabu“.
Dreieck aus mehr als 1.000 Inseln
Von der chilenischen Osterinsel im Südosten bis zu Neuseeland im Südwesten und nach Hawaii im Norden erstreckt sich das polynesische Dreieck (Polynesien = „viele Inseln“) im Pazifik. Es umfasst mehr als 1.000 Inseln. Die Herkunft der Polynesier wird unter Wissenschaftlern debattiert. Forschungen lassen auf eine Herkunft vom heutigen Taiwan über Neuguinea schließen. Die Bewohner der Osterinseln hingegen haben eine genetische Verwandtschaft mit Südamerikanern.
Die Seefahrer der Lapitas
Als die ersten Europäer Ende des 16. Jahrhundert an den Stränden Polynesiens ankamen, lebten auf den Inseln etwa 500.000 Menschen. Sie stammten von den großen Seefahrern Lapitas ab, die Fidschi, Tonga und Samoa schon 1500 bis 1100 vor Chr. erreicht hatten. Diese „Wikinger des Pazifiks“ hatten große Entfernungen zurückgelegt und ohne Hilfe von Instrumenten nach den Sternen navigiert.
Tätowierwerkzeuge und -muster
Für ihr Leben auf den Korallenatollen und Vulkangipfeln brachten die Lapitas Saatgut und landwirtschaftliche Geräte mit und domestizierte Tiere. Sie erzählten Geschichten über die Abstammung der Häuptlinge von den Göttern, über Reisen der Helden der Vorfahren und über Schöpfungsmythen. Sie hinterließen Tätowierwerkzeuge und Keramikfragmente, die Tätowiermustern ähneln. (uw)
So durften nur speziell ausgebildete Tätowierer die Tintenkunst anbringen. Während Tattoos heute fast immer mit feinen, sterilisierten Nadeln und automatischen Tätowierpistolen gestochen werden, war die Prozedur in ihrer ursprünglichen Form deutlich weniger angenehm. Eine Tätowierung nach traditioneller Methode war mit monatelangen, kaum zu ertragenen Schmerzen verbunden.
In Samoa, einer Inselgruppe mit einer besonders starken Tätowierkultur, wurde von jugendlichen Männern erwartet, dass sie sich – quasi als Übergangsritus zum Erwachsensein – einer täglichen über bis zu vier Monate dauernden Tätowierprozedur unterziehen. Dabei wurde ein mit Tinte versetzter Kamm oder eine Nadel aus Knochen buchstäblich unter die Haut gehämmert – ohne jegliche Betäubung. Danach wurde die Wunde mit Salzwasser gereinigt und zum Schutz vor Infektionen massiert.
„Der gesellschaftliche Druck sorgte dafür, dass die meisten Männer den Prozess abschlossen“, meint der mit den Traditionen vertraute Journalist Jonathan DeHart. „Denn sie wollten nicht als Feiglinge gelten und von den anderen Mitgliedern ihres Stammes gemieden werden.“ Jene, die den Schmerz nicht mehr ertragen wollten und aufgaben, „trugen ihre unvollständige Tinte ein Leben lang als Zeichen der Schande“.
Pascal Erhel Hatuuku passt kaum in den Sessel, so wuchtig ist der Mann gebaut. Mit hüftlangem Haar und einer prominenten Tätowierung auf dem rechten Bein verkörpert der gebürtige Marqueser das Bild eines polynesischen Kriegers. Tatsächlich diente Erhel Hatuuku mehrere Jahre lang in der französischen Armee, bevor er sich in seiner pazifischen Heimat der Förderung polynesischer Kultur verschrieb. Er erzählt, wie die Tradition des Tätowierens mit der Ankunft christlicher Religion vor rund 150 bis 200 Jahren ein abruptes Ende gefunden hatte.
Christliche Missionare und der Vormarsch des katholischen Glaubens bis ins hinterste Tal und auf das kleinste Atoll brachten neue Werte und neue Verbote nach Polynesien. Ein ganz besonderer Dorn im Auge war den Geistlichen aus fernen Landen die Nacktheit der Polynesierinnen und der freizügige Umgang mit der Sexualität. Dieses Attribut der Bewohnerinnen auf einigen Inseln hatte es Jahre zuvor den Matrosen britischer Schiffe angetan. Einige waren von der Schönheit polynesischer Frauen so begeistert, dass sie sich trotz Androhung schärfster Strafen von ihrer Schiffsmannschaft trennten und sich unter tropischer Sonne mit einer Polynesierin im Arm ihren eigenen Südseetraum erfüllten.
Mit dem Alten Testament kam auch das Verbot der absichtlichen Veränderung des Körpers in den Pazifik. „Gott – der katholische Gott, oder Jesus, wenn Sie wollen – die hätten den Menschen nicht mit einem Tattoo geschaffen“, habe die Botschaft der weißen Priester geheißen, so Erhel Hatuuku. „Denn ein Mensch sei auch ohne Tätowierung schön“, sage die Bibel.
Es habe zwar vereinzelt Widerstand gegen die Zerstörung der Tätowierungstraditionen gegeben, vor allem von den Tahitianern auf den Gesellschaftsinseln, schreibt Jonathan DeHart. Eine Gruppe einflussreicher Dichter, Priester und Historiker habe Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine Reihe von „Tattoo-Rebellionen“ durchgeführt, mit denen sie ihre Souveränität und ihre religiösen Wurzeln behaupten wollten. Auch in Samoa und Tonga gab es Versuche, die heilige Tradition bewahren zu können. Doch auf vielen Inseln wurde der katholische Glaube im Verlauf der Jahre derart dominant, dass polynesische Traditionen kaum noch Überlebenschancen hatten.
Dieser Zustand hielt in weiten Teilen Polynesiens in unterschiedlichem Ausmaß bis in die 1970er und 1980er Jahre an. Dann erlebten Tätowierungen eine kulturelle Wiedergeburt. „Zu diesem Zeitpunkt waren die alten Muster und Bedeutungen bereits völlig verloren“, wird der Anthropologe und Filmemacher Jean-Philippe Joaquim zitiert. „Als die Menschen begannen, sich wieder Tätowierungen anzueignen, verwendeten sie Material, das von einigen deutschen und amerikanischen Wissenschaftlern aus dem 19. Jahrhundert dokumentiert und gesichert worden war“. Die Forscherin Heidy Baumgartner hat die „Wende“ in den frühen achtziger Jahren selbst miterlebt. „Es kam in Polynesien zu einem Wiederaufleben des Interesses an der eigenen Kultur“, zu einem Wiedererwachen der Identität. „Tätowierungen waren die ersten Zeichen dieser Renaissance.“ Seither wurde die Praxis wieder so populär, dass heute auf vielen Inseln im Pazifik ein großer Teil der Erwachsenen eine Tätowierung trägt.
Pascal Erhel Hatuuku zeigt auf das Tattoo auf seinem Bein. „Es ist wie ein Markierungszeichen für uns. Das Tattoo zeigt, dass man aus Polynesien stammt, aus Tahiti, Tuamotu oder aus Neuseeland.“ Zudem kanalisiere eine Tätowierung „die Kraft, die aus der Umwelt kommt – der Tiere, der Pflanzen, der Landschaft“. Trotzdem: Gerade unter älteren Generationen sei die Warnung der Missionare noch spürbar, das Anbringen eines Tattoos sei ein Vergehen gegen Gott, gegen die Schöpfung. Für seine betagten Eltern etwa seien Tätowierungen „unsauber“, wie er es ausdrückt, „weil sie den Körper verändern“.
Solche Argumente hört man unter jüngeren Menschen kaum noch. Selbst Polynesier, die sich als gläubige Christen bezeichnen, tragen gerne ein traditionelles Tattoo. Denn nebst Kultur und Identität haben junge Menschen noch einen anderen Grund, sich ein Tattoo stechen zu lassen: Eitelkeit. Pascal Erhel Hatuuku: „Ein Grund ist die Ästhetik. Ein Tattoo ist einfach auch schön.“
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