doppelblind
: Wer hat Angst vor dem roten Mann?

Das Jahr 1919 war ein gutes für die italienischen Sozialisten. Bei den Parlamentswahlen gewannen sie 31,6 Prozent der Stimmen. Fünf Jahre später gaben ihnen plötzlich nur noch 13 Prozent der Wäh­le­r ihre Stimme. Die Faschisten unter Benito Mussolini hingegen erhielten fast 65 Prozent – und bauten das Land binnen kurzer Zeit in eine Diktatur um.

Hängt all das zusammen? Der Erste Weltkrieg, die Erfolge der So­zia­lis­ten und der Aufstieg Mussolinis? Das haben Ökonomen im Quarterly Journal of Economics untersucht. Neben den Wahlergebnissen erhoben die Wissenschaftler den Anteil gefallener Infanteristen an der männlichen Bevölkerung einer Gemeinde sowie Vorfälle faschistischer Gewalt auf Gemeindeebene. Um ihre Ergebnisse zu überprüfen, sammelten sie außerdem Daten zu Dürren, Spanischer Grippe, Anteil der Mittelschicht, Durchschnittsalter und weitere soziologische, geografische, ökonomische Faktoren.

Ihr Ergebnis: Den größten Einfluss auf den Wahlerfolg der Sozialisten hatte die Zahl der Gefallenen in einer Gemeinde. War die besonders hoch, erhielten sie 5 Prozentpunkte mehr Stimmen. Weder Lesefähigkeit noch Streiks, Kriminalitätsrate oder die Zahl der Großgrundbesitzer hatten einen derart großen Einfluss. Auch bei der faschistischen Reaktion stoßen die Ökonomen auf einen statistisch signifikanten Zusammenhang: Über ganz Italien verteilt sorgten die guten Wahlergebnisse der Sozialisten für 3 Prozent mehr faschistische Gewalt. In Gemeinden, in denen die Sozialisten besonders gut abschnitten, muss der Effekt noch größer gewesen sein.

Für die Wahlergebnisse der Faschisten in den 1920er Jahren kommen sie zu einem noch eindeutigeren Ergebnis: Ein gutes Viertel ihres Stimmenzuwachses bis 1924 hängt mit dem Erfolg der Sozialisten zusammen. Wo diese weniger Unterstützung hatten, erhielten später auch die Faschisten weniger Stimmen.

Ihre Ergebnisse erklären die Autoren der Studie mit der Angst vor den Sozialisten, insbesondere bei Großgrundbesitzern und der Mittelschicht. Die Stimmen für die Faschisten kamen deshalb zu großen Teilen von den anderen rechten Parteien. Die brutalen Repressionsmaßnahmen der Schwarzhemden sorgten gleichzeitig dafür, dass viele Sozialisten ihre Stimme nicht abgeben konnten. In Regionen, in denen die Sozialisten schwach waren, blieben viele Wähler bei den traditionellen rechten Parteien.

Interessant an der Studie ist, dass sie nichts Neues verrät. Vor allem marxistische His­to­ri­ke­r*in­nen haben schon vor Jahrzehnten gezeigt, dass die Angst vor den Sozialisten in der Mittel- und Oberschicht großen Einfluss auf die faschistische Bewegung hatte. Die Ökonomen haben es nur hübsch ausgerechnet. Jonas Waack