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Zerbrechliche Kunst-Welten

BAROCKES FEIERN Zum dritten Mal nehmen die Kunstfestspiele Herrenhausen bis nächsten Sonntag die Tradition der barocken Gartenfeste auf und bringen in Hannover unter dem Motto „Fragiles Gleichgewicht“ Alte und Neue Musik, Installationen, Tanztheater und Gesprächsrunden zusammen

Erstaunlich wenig Anweisungen gibt John Cage vor vierzig Jahren für seinen „Musicircus“: Beliebig viele Musiker treffen sich an einem festgelegten Ort zu einem festgelegten Zeitpunkt und geben von sich, was ihnen beliebt. Heraus kommt in jedem Fall mitnichten die erwartete chaotische Kakophonie, sondern erstaunlich viel harmonische Ordnung. Genauso war es auch am Samstag, als Stephan Meier, Künstlerischer Leiter des Neuen Ensembles Hannover, rund 100 hannoversche Musiker für die Kunstfestspiele Herrenhausen im Großen Garten der Herrenhäsuer Gärten versammelt hat.

Zum dritten Mal nimmt dort Intendantin Elisabeth Schweeger die Tradition der ausschweifenden barocken Gartenfeste wieder auf und bringt in der Leibniz-Stadt für zweieinhalb Wochen Alte und Neue Musik, Filmkonzerte, Gespräche und Installationen zusammen. Insgesamt sind bis nächsten Sonntag 18 Produktionen, vier Kunstprojekte und zwei Gesprächsrunden zu sehen und hören, die unter dem Motto „Fragiles Gleichgewicht“ stehen. Denn hinter all dem gegenwärtigen Gerede um Krisen, Kriege und Katastrophen stecke vor allem ein Vergessen, „wie zerbrechlich, wie fragil der Mensch und seine Konstruktionen sind, die er sich baut, um zu überleben“. Die Kunst wiederum schöpfe ihre Kraft gerade aus dieser Zerbrechlichkeit und öffne damit Türen für neue Visionen und Kunst-Welten.

Möglich werden dann Kollaborationen wie des Arditti String Quartet mit dem US-amerikanischen Slam-Poeten Saul Williams: Auf dessen Poem „NGH WHT“ hat der Schweizer Komponist Thomas Kessler ein Stück für Stimme und Streicher geschrieben. Ergänzt wird das Konzert am nächsten Samstag in der Galerie außerdem mit einer Streicher-Übersetzung von Conlon Nancarrows Lochkarten für „Player Pianos“. 51 Studien hat der mexikanische Komponist und Jazztrompeter seit Mitte der 1950er für die Selbstspielklaviere gestanzt, die sich vor allem für rhythmische und temporale Abläufe interessieren: eine große Herausforderung selbst für die Instrumentalisten eines der führenden Streichquartettensembles.

Ein eindrucksvolles Aufeinandertreffen von Klassik und Hip-Hop ist auch das Musik-Tanz-Theater-Projekt „Sampled Identity“, in dem am Abend zuvor Absolventen der Hip-Hop Academy Hamburg auf die Streicher des renommierten Ensemble Resonanz treffen. Zu Beginn scheint sich ein Kampf zweier Welten anzubahnen, die gewöhnlich wenig Kontakt miteinander haben: Hochkultur gegen Straßenkultur, Klassik gegen Hip-Hop. Um sein Instrument fürchten muss allerdings keiner der acht Streicher. Stattdessen beginnen alle Beteiligten ganz behutsam auszumessen, wie weit sie aus ihren klassischen Rollen heraustreten können, wie weit man aufeinanderzugehen, sich auf das Gegenüber einlassen kann. Und setzen sich auf der Grundlage ihrer eigenen Biografien tänzerisch, schauspielerisch, musikalisch mit der eigenen Identität auseinander. Ein komplexes Aufeinandertreffen von Scratching und Streichern, von Notenblatt und improvisierten Tanzschritten, das beide Seiten in Bewegung bringt – und am Ende als Sieger nebeneinander stehen lässt. ROBERT MATTHIES

■ Hannover: bis So, 17. 6., Herrenhäuser Gärten, Herrenhäuser Straße 4, www.kunstfestspiele.de

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