berliner szenen: Berlin vom Oberdeck betrachtet
Das Beste aus dem 9-Euro-Ticket machen? Eine ziellose Nachtfahrt mit dem Doppeldecker durch Berlin. Diese Busse der BVG sind seit meiner Schulzeit eins der aufregendsten Fortbewegungsmittel ever – besonders auf einem Platz in der ersten Reihe gleich am Fenster. Da hat man einen 180-Grad-Panoramablick von hoher Warte auf die Welt unter einem. Nach Einbruch der Dunkelheit ist es selbst in stark genutzten Linien wie dem M29, der u. a. über den Kudamm fährt, ziemlich leer. Und so bewegt man sich mehr oder weniger allein wie im Privat-Helikopter hoch über Berliner Nacht-Tableaus. Was für ein Schauspiel!
Majestätisch wie ein Ozeandampfer gleitet man über Prachtboulevards wie den Tauentzien. Unter einem drängt, wimmelt oder dämmert das Berliner Leben, das einem tagsüber manchmal so schwer auf der Seele lastet, in erträglicher Distanz vor sich hin. Neonreklamen und Schaufenster leuchten; Nachtschwärmer hasten über den Bürgersteig. Manchmal würde man gerne aufspringen und sich durch die Bustüren zwängen, um mitzuwuseln. Doch dann siegt die Trägheit und das sublime Erlebnis auf dem Oberdeck.
Die Häuser, in deren beleuchtete Fenster im zweiten Stock man für einen Augenblick blicken kann, erscheinen wie Puppenstuben. Wenn der Bus langsam an einer Ampel stehen bleibt, erhascht man manchmal einen Blick auf einen einsamen Esser oder eine verlorene Gestalt vor dem Laptop.
Auf einmal zwängt sich der Bus in eine schmale Seitenstraße. Die Zweige der Linden am Straßenrand wischen raschelnd über das Dach des Fahrzeugs – wie weiche Finger. Dann biegt der Bus am Landwehrkanal um eine Ecke, urplötzlich ist alles vollkommen dunkel, und man fühlt sich für einen Augenblick wie ein Astronaut, der ganz allein im All schwebt.
Tilman Baumgärtel
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