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Und wieder fehlt das Quäntchen

Deutschland verliert sein Klein-WM-Halbfinale gegen Brasilien mit 3:2, erntet dafür aber selbst vom Gegner Anerkennung. Ungeachtet dessen bleibt eine Tatsache bestehen: Die DFB-Kicker können gegen einen Gegner von Weltklasse nicht gewinnen

AUS NÜRNBERG MATTI LIESKE

Tagelang hatten Brasiliens Trainer Carlos Alberto Parreira und seine sämtlichen Spieler so ausführlich über ihre Mattigkeit und Müdigkeit referiert, dass alle, die ihnen zuhörten, unwillkürlich ein großes Gähnen überfiel und ihnen die Augen zuklappten. Ein Effekt, vor dem Jürgen Klinsmann seine Leute gewarnt hatte. Hellwach würden sie im Halbfinale gegen Deutschland sein, die Brasilianer, und wie immer behielt der Bundestrainer ganz enorm und sehr, sehr recht. Zumindest bis ungefähr zur 60. Minute. „Brasilianer klinisch tot“, notierte da der Berichterstatter auf seinem Block. Parreiras Ballverwöhner gewannen keine Zweikämpfe mehr, gerieten in arge Bedrängnis, Defensivbollwerk Emerson schleppte sich bloß noch mit der Spritzigkeit eines rheumatischen Feldhamsters über den Platz, nur Bayerns Lucio schien noch Kraft zu haben, benutzte diese aber lediglich dazu, den Ball nach Schiedsrichterpfiffen wütend ins Publikum zu bolzen. Das schien der historische Moment für die entengang- und springseilgestählten deutschen Kicker zu sein, endlich die Vision vom Sieg gegen ein großes Team Wahrheit werden zu lassen.

Es wurde jedoch wieder nichts. Trotz eifrigen Bemühens, verheißungsvoller Spielzüge und aussichtsreicher Schusspositionen war die bis dahin dem DFB-Team bei diesem Turnier anhaftende Torgefährlichkeit dahin, Schiedsrichter Chandia aus Chile mochte auch keine Elfmeter mehr pfeifen, und so fehlte erneut das von Klinsmann so häufig beschworene „Quäntchen“, die Fähigkeit, „so ein Spiel auch mal für sich zu entscheiden“, wie er es gern nennt. Ein Quäntchen, wie jener Ausbruch aus der Totenstarre, mit dem Roque Junior, Robinho und Adriano in der 76. Minute den deutschen Sturmlauf abrupt beendeten, ein Spielzug über drei Stationen mit Lazarus-Appeal. „Die Brasilianer sind eine Mannschaft, die man keine Sekunde aus den Augen lassen darf“, dozierte der Bundestrainer anschließend und schien mal wieder geradezu dankbar für die Lektion, die seinen Mannen zuteil geworden war. Schließlich war es Klinsmann, der den bis dato unbekannten Lehrberuf „Weltmeister“ erfunden hat. „Wenn du das Gefühl hast, du bist näher am 3:2 als sie, und dann stechen sie zu, das bleibt in den Köpfen hängen“, wusste er außerdem. Was erklärt, dass nach dem Rückstand die deutschen Spieler die Feldhamster waren und die Brasilianer plötzlich wirkten wie Absolventen einer dreiwöchigen Entengangtherapie in Arizona. „Ihnen wurden die Füße leichter, uns wurden sie schwerer“, sagte Klinsmann.

Wie kompliziert das deutsche Team den Brasilianern die Sache gemacht hatte, zeigte sich an deren Reaktionen nach Schlusspfiff. Vor allem Lucio raste im Stile eines Besessenen über den Platz und erweckte den Eindruck, als hätte er gerade Weltmeistertitel und Champions League gleichzeitig gewonnen. Eine weitere Niederlage in diesem Confederations Cup nach der Schlappe gegen Mexiko hätte sehr unangenehme Reaktionen in der Heimat nach sich gezogen, schließlich war die Seleçao nahezu in Bestbesetzung angetreten. Lediglich Ronaldo, Roberto Carlos und Cafú fehlten, und inwieweit diese nächstes Jahr ihren Platz im Team finden können, muss sich erst noch zeigen.

Das DFB-Team jedenfalls deckte die Schwächen des Weltmeisters gnadenlos auf. Die im Abwehrzentrum zum Beispiel, wo Roque Junior ein echtes Sicherheitsrisiko darstellte. Wie schon Mexikaner und Japaner kamen auch die Deutschen immer wieder frei zum Kopfball, was Podolskis Ausgleich zum 1:1 brachte und auch den Elfmeter, den Ballack zum 2:2 verwandelte. Klinsmanns Taktik, hinten zunächst nur mit drei Leuten zu spielen und in der Mitte, dem bevorzugten Tummelplatz des Gegners, die Abräumer Ernst und Frings zu postieren, klappte vorzüglich. Jeder ballführende Brasilianer sah sich meist drei deutschen Spielern gegenüber, zumindest, solange bei den hohen Temperaturen die Kraft für diese aufwändige Laufarbeit reichte. Und wenn die Robinhos und Ronaldinhos mit ihren Dribblings und Kurzpässen hängen blieben, waren sie oft so weit aufgerückt, dass sich Räume boten, die besonders Schneider, Ballack und der zurückhängende Podolski mit Pässen „in die Schnittstellen“ der Abwehr nutzten, wie Klinsmann lobte.

„Die Mannschaft kann ein bisschen stolz sein“, sagte der Bundestrainer und meinte nicht nur das Halbfinale, sondern das gesamte Turnier, bei dem die guten Spiele gegen Argentinien und Brasilien die etwas wackligen Partien zu Anfang gegen Australien und Tunesien vergessen ließen. Die Reputation ist gewachsen, wie auch die nicht nur höflichen Einschätzungen der Kontrahenten zeigen. „Das Team wird solide“, meinte Parreira und sagte, schon mit Blick auf die WM, es sei „nicht leicht, die Deutschen auf ihrem Platz zu schlagen“. Wo deren Stärken seiner Meinung nach liegen, daran ließ Parreira keinen Zweifel: „Es war ein Spiel zweier verschiedener Stile. Sie haben ihre Physis, wir unsere Technik, unsere Spielkunst, unser Herz.“ Nach wie vor also die alten Stereotype.

Der Bundestrainer konnte seinen Ärger über die erneut verpasste Chance gut verbergen, weniger klandestin ging Michael Ballack mit seiner Enttäuschung um. „Wichtig ist, dass man’s gewinnt“, sagte der Kapitän, der in ein paar Szenen ungewohnte Abschlussschwächen zeigte und bis zur WM vor allem Verbesserungen in der Defensive fordert. Daran soll in den kommenden Spielen gegen starke Kontrahenten gefeilt werden, zunächst natürlich am Mittwoch in Leipzig, wenn es um Platz drei beim Confed-Cup geht. „Gegen Mannschaften wie Nordirland, Tunesien, Australien sehen wir sehr gut aus“, findet Ballack, „wir brauchen aber Spiele gegen große Gegner.“ Und das bewusste Quäntchen natürlich.

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