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Ein geradliniger Protestant

Der Religionspädagoge Hans Prolingheuer, die Recherche zu „Entarteter Kunst“ und die taz – eine Erinnerung

Hans Prolingheuer Foto: Fo­to: Tho­mas Gerlach

Der erste Anruf bei Hans Prolingheuer im November 2013 war kurz. Mit dünner, aber klarer Stimme wünschte er bei der Recherche viel Erfolg, erteilte einem Besuch aber eine Absage. Kurz zuvor war der „Schwabinger Kunstfund“ bekannt geworden. Steuerfahnder hatten bei dem Münchner Privatier Cornelius Gurlitt bedeutende Werke der Moderne entdeckt, darunter Chagall, Picasso, Renoir, über 900 Werke, viele galten als NS-Raubkunst, andere als Teil der „Entarteten Kunst“.

Cornelius Gurlitt war der Sohn von Hildebrand Gurlitt, einem der bekanntesten Kunsthändler der NS-Zeit. Hans Prolingheuer war der Name vertraut. Früh hatte er sich mit Raubkunst, NS-Kunsthandel und „Entarteter Kunst“ befasst, dabei besonders mit der unrühmlichen Rolle der evangelischen Kirche. Sein Buch „Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche und Kunst unterm Hakenkreuz“, 2001 erschienen, war eine unerschöpfliche Quelle für meine Texte zum Thema. Prolingheuer selbst aber schwieg.

Ein Jahr später saß ich bei Prolingheuer im Arbeitszimmer in Dortmund. Ich hatte ihm meine Artikel geschickt, er hatte Vertrauen gefasst. Der Westfale Prolingheuer, durch und durch ein Mann der Kirche, und ich, der taz-Reporter aus dem Osten, eigentlich ein evangelischer Theologe – das passte. Prolingheuer, damals schon weit über achtzig, erzählte mir, was ihn hatte misstrauisch werden lassen – „seine“ evangelische Kirche, die über Jahrzehnte nichts wissen wollte von ihrer Unterstützung, ja Begeisterung für den NS-Staat, dazu eine akademische Welt, die Prolingheuer, kein studierter Historiker, sondern Religionspädagoge, nicht wirklich als Ihresgleichen ansah und eine Publizistik, die Prolingheuers bedeutendstes Werk, die „Frommen Bilderstürmer“, weitgehend beschwieg.

Im katholischen Köln, wo er viele Jahre lebte, war der Lutheraner Prolingheuer genauso randständig wie in der evangelischen Kirche, in der Bischöfe immer noch das Sagen hatten, die in den dreißiger Jahren bei Hitler antichambrierten. Hans Prolingheuers Veröffentlichungen zur NS-Vergangenheit der evangelischen Kirche sind zahlreich, über Georg Fritze, den „roten Pfarrer“ von Köln, über die Vertreibung von Karl Barth, Theologe und Mitbegründer der Bekennenden Kirche, 1935 aus Deutschland, über die „Entjudung“ der deutschen Kirchenmusik und vieles weitere.Zwangsläufig führte ihn sein Interesse zur Rolle des evangelischen Kunstdienstes beim Ausverkauf der „Entarteten Kunst“. Das Ergebnis waren 2001 die „Frommen Bilderstürmer“.

Es war eigentlich kein Wunder, dass Prolingheuer eines Tages eine Kopie des Verzeichnisses zugespielt wurde, das Rolf Hetsch im Propagandaministerium 1941 verfasst hatte und in der alle etwa 20.000 Kunstwerke aufgelistet waren, die 1937 als „entartet“ eingezogen worden waren. Von der Liste, das Original befand sich in London unter Verschluss, existierte zwar eine Kopie in einer Berliner Forschungseinrichtung, diese allerdings blieb aus fadenscheinigen Gründen unzugänglich.

Bei meinem Besuch in Dortmund lag dieses Verzeichnis auf dem Tisch, 482 A4-Seiten. Aber nicht nur das. Prolingheuer legte ein Manuskript daneben: „Das Such- und Findbuch zu Hitlers Raubliste“. Er hatte in monatelanger Arbeit einen Index erstellt, in dem er akribisch sämtliche Künstler, Kunstwerke, Herkunft, Händler und Verbleib erfasst hatte. Es war wie ein Schlüssel. Erst dadurch ließ sich das Schicksal jedes einzelnen Bildes genau nachverfolgen.

Mit der kopierten Liste und dem „Such- und Findbuch“ kehrte ich nach Berlin zurück. Denn Hans Prolingheuer wollte sein Alterswerk unbedingt der Öffentlichkeit zugänglich machen und bot der taz eine Zusammenarbeit an. Denn was bringt ein Index, wenn er nicht genutzt werden kann? Die taz ließ eine Suchmaschine erstellen, die im November 2014 als kunstraub.taz.de online ging. Für die taz in Sachen Datenjournalismus der erste große Coup.

Misstrauisch blieb Hans Prolingheuer auch gegenüber dieser Liste. Dass alle Kunstwerke, hinter denen ein X stand, wirklich vernichtet worden sein sollten, bezweifelte er aus einem einfachen Grund: Wenn ein Bild als verbrannt galt, suchte keiner mehr nach ihm – überaus praktisch für die neuen Eigentümer, nichts als Unrecht für die alten.

Bei meinem letzten Besuch bei Hans Prolingheuer, er lebte in einem Seniorenheim in Lüneburg, lagen vier CDs auf dem Tisch. Es waren Gespräche, die er zusammen mit dem Schriftsteller Jürgen Rennert mit Gertrud Werneburg über den Ausverkauf der „Entarteten Kunst“ geführt hat. Die Ausstellungsmacherin, eine der Hauptbeteiligten der „Verwertung“, kam bei dem Treffen 1991 geradezu ins Schwärmen über ihre Zeit im Schloss Schönhausen 1938/39, über die Barocktreppe, die Besuche und über die Macht, die sie damals besaß.

Viele von Werneburgs Aussagen fanden sich später in den „Bilderstürmern“ wieder. Prolingheuer hatte die Tonbänder lange gehütet wie seinen Augapfel. Seine Bibliothek hatte er vor dem Umzug nach Lüneburg verschenkt. Und jetzt drückte er mir die CDs in die Hand. „Mach damit, was du willst.“ Es klang keinesfalls gleichgültig. Es war voller Vertrauen.

Erstmals veröffentlicht die taz nun Auszüge aus diesen Gesprächen. Sie sind ein Blick zurück in eine grauenhafte Vergangenheit. Sie sind aber auch eine dankbare Erinnerung an den, der diesen Blick ermöglicht hat: Hans Prolingheuer ist am 21. April 2022 gestorben. Er wurde 92 Jahre alt.

Thomas Gerlach

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