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Wo Vögel auftanken

Die Feuchtwiesen, Röhrichte und Bruchwälder des Dümmersees in Niedersachsen sind ein Paradies für Vögel – eines der bedeutendsten in Europa. Eine Safari lohnt sich zu jeder Jahreszeit

Schier endlose Feuchtwiesen prägen die Landschaft rund um den Dümmer. Für Vögel wie diesen Kiebitz bieten sie eine ideale Kinderstube Fotos: Willi Rolfes/Imagebroker/Imago; H. Duty/Blickwinkel/Imago

Vom DümmerHarff-Peter Schönherr

Klar, eine Graugans ist kein Löwe. Ein Kiebitz ist keine Tüpfelhyäne, ein Fischadler kein Weißbartgnu. Und ein Kolkrabe ist kein Zebra, kein Elefant, kein Nashorn, kein Flusspferd. Trotzdem kann sich eine Tour an den Dümmersee in Niedersachsen anfühlen wie eine Safari in die Savanne am Ngorongoro-Krater in Tansania.

Die Massai haben die wildreiche Serengeti das „endlose Land“ genannt. Auch die wildreichen Feuchtwiesen im Südwesten des Dümmers erscheinen endlos. Wer aus Richtung Nordwesten hinter dem Moorschnucken-Schäferhof nach links abbiegt, und einen guten halben Kilometer danach noch mal, in die schmale, fast schnurgerade Straße „Teichwiesen“, Richtung See, befindet sich in einer Welt, in der der Blick schweifen kann: im Ochsenmoor.

Das Moor ist Teil eines Rast- und Überwinterungsgebiets für Zugvögel, eines der wichtigsten in Europa, für manche Tierart eines der wichtigsten der Welt. Tausende Hektar weit steht es unter Schutz, Flora-Fauna-Habitat-Flächen des Natura-2000-Netzes inklusive. Es ist die Welt des Singschwans und der Uferschnepfe, des Austernfischers und des Großen Brach­vogels, der Brandgans und der Krickente.

Die Luft ist erfüllt von Rufen: einzelnes, hohes Pfeifen. Tiefes, vibrierendes Krächzen. Hartes, metallisches Kreischen. Schnelles Schnattern, weiches Schnarren

Schwingen rauschen. Schwärme steigen auf, verdunkeln den Himmel, senken sich wieder. Die Luft ist erfüllt von Rufen: einzelnes, hohes Pfeifen. Tiefes, vibrierendes Krächzen. Hartes, metallisches Kreischen. Schnelles Schnattern, weiches Schnarren. Hier ein melodisches Flöten, dort ein gellender Triller. Ein Paradies für Wiesenvögel, Wasservögel, Watvögel. Gerade stiebt eine Wolke Schwarzkopfmöwen über dem Polder auf.

Wer den „Teichwiesen“ weiter folgt, kommt nicht nur an vielen Tieren vorbei, auch an einigen Menschen – Vogelkundlern mit Ferngläsern und Kameras, deren gewaltige Teleobjektive länger sind als ein Unterarm. Dass sie mit dem Auto kommen und oft auch im Auto sitzenbleiben, zeugt nicht von Faulheit, sondern von Fachwissen: Viele Vögel zeigen Scheu vor der menschlichen Silhouette, und jede Flucht nach einer Störung kostet sie Energie – Energie, die sie für ihren Weiterflug brauchen.

Ein Besuch in dieser Vogelwildnis lohnt sich das ganze Jahr über. Aber es gibt Zeiten, in denen ist hier besonders viel los. Im Winter, wenn die Wiesen von Blässgänsen wimmeln. Oder im Herbst, wenn die Kraniche auf ihrem Zug in den Süden am Dümmer Station machen.

Der See ist noch immer imposant, obwohl seine heute rund 13 Quadratkilometer nur ein Bruchteil seiner ursprünglichen Größe sind. Die Vögel haben ihn sich dennoch gemerkt. Seit Urzeiten ist er ihr Ziel. Manche Arten brüten hier. Manche rasten hier, bevor sie in ihre Brut- oder Überwinterungsgebiete aufbrechen. Sie sammeln sich zu Tausenden, Zehntausenden, Hunderttausenden. Manche dieser Besucher sind Weltreisende. In den Osten Sibiriens ziehen sie, in den Mittelmeerraum, in den Süden Afrikas, in den Norden Skandinaviens, in die Arktis.

Sind keine schreckhaften Arten in der Nähe, lohnt sich ein vorsichtiges Aussteigen. Dann heißt es: Kaffeebecher füllen, Isomatte auf den Boden, still hinsetzen, reglos bleiben, warten. Eine Weile, und du wirst für die Vögel zu einem Teil der Natur. Sie spüren, du bist keine Gefahr. Du wirst Teil ihres Alltags. Manche kommen näher und näher, teils bis auf wenige Schritte.

Wer weiterfährt, entlang an mäandernden Bächen und schnurgeraden Gräben, kleinen Teichen, Gehölzstreifen und wieder vernässtem Grünland, erreicht den Röhrichtgürtel des Sees, am Mündungsdelta seines Hauptzuflusses, der Hunte. Von dort ist es nicht mehr weit, und eine Entscheidung steht an: nach links in den kleinen Dümmerort Hüde und die vielen Storchennester zählen oder nach rechts zur Naturschutzstation.

Die Ausstellung in der Naturschutzstation Am Ochsenmoor 52, 49448 Hüde ist derzeit wegen der Corona­pandemie geschlossen, Von ihrer Website kann man unter https://t1p.de/z9luj aber eine Wanderkarte herunter­laden.

Wer sich rechts hält und Glück hat, steht am Zentrum, Artenschutz-Ausstellung inklusive, nicht vor verschlossenen Türen. Was hier auf jeden Fall lohnt: zwischen Hof und Garten hindurch in die Wiesen wandern, zum Beobachtungsturm am Bruchwald, dessen dunkles, sumpfiges Wasser mitunter geheimnisvoll gluckst. Gerade steht in einer der Schilfbuchten ein Silberreiher, majestätisch groß, schneeweiß.

Wer im Turm den Abend abwartet, sieht die weiten Wasserflächen silbrig gleißen, farbig glühen. Die Tiere kehren zu ihren Schlafplätzen zurück, es wird still, und ein wenig kann man sich vorstellen, wie es gewesen sein muss, als steinzeitliche Jäger hier am Dümmer riesigen Rentierherden begegneten, als das hier wirklich wie die Serengeti war.

Wenn man sich die Windräder in der Ferne wegdenkt, ist die Dümmerniederung ein urtümlicher Ort. Nebel ziehen über die Weite. Abgestorbene Bäume ragen aus dem Wasser. Aber eine pure Idylle ist auch der Dümmer nicht. In manchem umliegenden Moor wird noch immer abgetorft, statt es als CO2-Speicher unangetastet zu lassen.