Eine verdrängte Welt

Die Ausstellung „Zwischen Zwangsfürsorge und KZ“ zeichnet die Verfolgung der Unangepassten und Armen nach. Und ihre Kontinuität vom Kaiserreich bis heute

Menschenfeindlich seit Kaisers Zeiten: Das Versorgungsheim Farmsen Foto: Unbekannt/Sammlung Heidrun Schönberger

Von Frank Keil

Der starre Blick sowie die Ziffer über dem Kopf legen nahe: Helmut L. hat sich nicht freiwillig fotografieren lassen. Im Jahr 1923 hatte der damals 16-Jährige seine Familie verlassen und war auf Wanderschaft gegangen. 15 Jahre später wird das Hamburger Erbgesundheitsgericht seine Sterilisation anordnen: Er mache „psychisch einen eigenartigen Eindruck“, ist in seiner Akte notiert. Nun hängt das undatierte Foto auf einer Text-Bild-Tafel im Foyer des Hamburger Rathauses.

„Zwischen Zwangsfürsorge und KZ – Arme und unangepasste Menschen im nationalsozialistischen Hamburg“ heißt die Ausstellung dort, kuratiert von der Historikerin Frauke Steinhäuser. „Es gab eine Kontinuität in der Abwertung, der Ausgrenzung und dann Verfolgung von marginalisierten Gruppen“, sagt sie. „Daher beginnt die Ausstellung weit vor 1933 und endet heute.“ Im Fokus stehen Fürsorgeempfänger:innen, Wohnungslose, Bettler, Alkoholkranke, entlassene Strafgefangene, Prostituierte oder jene, die man dafür hielt.

Beginnt ihre Erfassung und Verwahrung bereits in der Kaiserzeit, so radikalisiert sich das System von Kontrolle, Bestrafung und Zwangsunterbringung ab 1933 entschieden. Was von nicht wenigen der in den Behörden wie in den Fürsorgeeinrichtungen Tätigen erhofft worden war: Brutal knapp bringt das ein Statement von Oskar Martini im Februar 1934 zum Ausdruck, damals Vizepräsident der Hamburger Sozialbehörde und einer der wesentlichen Akteure wachsender Erfassung und Vernichtung in der Hansestadt: „Im nationalsozialistischen Staat können die Beamten die Fürsorge wieder mit der notwendigen Autorität ausüben: Sie können Unwürdige abweisen, Asoziale mit Zwang anpacken und Wohlfahrtsschwindler ausmerzen.“

Genau dies geschieht. Auf die reichsweite „Bettlerrazzia“ im September 1933 folgt 1938 die „Aktion Arbeitsscheu Reich“: Man setzt rund 500 Personen fest, in der Obdachlosenunterkunft „Pik As“ in der Neustadt werden alle Anwesenden mitgenommen, und man bringt sie in die KZs von Buchenwald, Sachsenhausen und Lichtenberg.

Erst im Februar 2020 hat der Bundestag die von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten als Opfer anerkannt: „Bis dahin konnte man mehr oder weniger deutlich sagen: ‚Die waren doch zu Recht im KZ, die waren ja kriminell, sonst wären sie ja als Opfergruppe anerkannt worden‘“, verweist Steinhäuser auf den fatalen Zirkelschluss, der untergründig bis heute wirkt.

„Diese Menschen haben nicht Tagebuch geschrieben“

Frauke Steinhäuser, Kuratorin

Dass es auf diese andauernde Ausgrenzung von Anfang an angelegt war, erzählt die Ausstellung und bietet dazu ein bemerkenswertes regionales Detail: Bereits im Mai 1945 tagt im Bieberhaus am Hauptbahnhof die „Soziale Arbeitsgemeinschaft“ der Sozialbehörde. „Sie haben die KZ-Opfer kategorisiert und bestimmt, welche entschädigungswürdig sind“, sagt Steinhäuser. „Die sogenannten asozialen, die sogenannten Berufsverbrecher wurden sofort davon ausgenommen“. Einer, der damals mit am Tisch sitzt: Oskar Martini. Und so bleiben die Weggesperrten, Entmündigten, Zwangssterilisierten, die, die man mit der Diagnose „Schwachsinn jeder Ursache“ bedacht hatte, mit dem Erlittenen einzeln für sich; ihre Geschichten sind bis heute kaum erzählt worden.

Auch die historische Forschung hat lange einen weiten Bogen um sie gemacht. Was auch an der Fremdheit ihrer Lebenswelten liegen dürfte: „Diese Menschen sind nicht in Urlaub gefahren und haben Ansichtskarten verschickt; sie hatten keinen Fotoapparat, sie haben eben nicht Tagebuch geschrieben oder hinterher ihre Erinnerungen aufgezeichnet, wie es das bei den anderen Verfolgtengruppen gibt.“

In diesem Sinne öffnet die Ausstellung den Blick auf eine weitgehend verschlossene Welt: Was weiß man denn über die Geschichte des bis heute bestehenden Mädchenheimes des Jugendamtes in der Feuerbergstraße, in dem es in der NS-Zeit eine Abteilung für „nicht Erziehungsfähige“ gab? Wie präsent ist der kulturbeflissenen Öffentlichkeit, dass im Hamburger Literaturhaus ab 1939 ein Mädchenheim war, mit einer „Schutzhaftstelle für Aufgegriffene“? Wer kennt das Gebäude am Paulinenplatz auf St. Pauli, wo die „Abteilung für Wohnungslose und Wanderer“ ihren Sitz hatte, deren Beamte ab 1933 die Polizei bereitwillig mit den Namen von zu Suchenden versorgten? Wieder zeigt sich, wie lang wirkend der Mythos ist, an dem der sich so weltoffen gebende Stadtstaat lange erfolgreich gestrickt hat: Hier an der Elbe wäre es in der Hitlerzeit doch alles nicht so schlimm gewesen.

„Zwischen Zwangsfürsorge und KZ“: Hamburger Rathaus, Rathausdiele, werktags 7–19, Sa 10–18, So 10–17 Uhr. Bis zum 3. 7.