Mit dem Fallschirm in den Wahlkreis

Bei der französischen Parlamentswahl ist in jedem der 577 Wahlkreise nur ein Abgeordnetensitz in der Nationalversammlung zu vergeben. Obwohl die Kandidierenden meistens hoch und heilig versprechen, in der Hauptstadt Paris die lokalen Interessen zu verteidigen und sie auch mindestens einmal pro Woche im Wahlbezirk anwesend sein werden, sollten laut Grundgesetz die Gewählten nicht ihre lokale Wählerschaft, sondern die Nation als Ganze in der Parlamentskammer vertreten.

Wer für die Nationalversammlung kandidiert, muss daher im Wahlkreis weder einen Wohnsitz noch sonst einen familiären oder beruflichen Bezug haben. Wenn dann die Parteien ihre prominenten Kandidaten mit Vorliebe dort ins Rennen schicken, wo sie zwar nicht einmal eine Adresse, aber aufgrund ihrer Popularität und der lokalen politischen Sympathien große Erfolgschancen haben, spricht man in Frankreich von candidats parachutés: Kandidaten, die wie mit einem „Fallschirm“ auf einem ihnen meist unbekannten Terrain landen. Und längst nicht immer ist die Landung sanft, also ein Wahlsieg.

Eigentlich sind diese Praktiken aus einer anderen Epoche längst verpönt. Doch auch dieses Mal gibt es jede Menge solcher „Fallschirmspringer“ im Wahlkampf. Zu diesen politischen Nomaden gehört auch Sandrine Rousseau, die zwar im Pariser Vorort Maisons-Alfort und damit in der Nähe ihres Wahlkreises auf die Welt kam, dann aber lange in Lille in Nordfrankreich gelebt hat und dort politisch aktiv war. Die Bekannteste unter den derzeitigen „Parachu­tistes“ ist jedoch eindeutig die Premierministerin Élisabeth Borne, die sich zum ersten Mal überhaupt einer Volkswahl stellt. Man hat ihr dazu einen erfolgversprechenden ländlichen Wahlkreis bei Caen in der Normandie reserviert, wo ein bisheriger Abgeordneter zu ihren Gunsten auf seine Kandidatur für eine Wiederwahl verzichten musste. Nicht alle, die einer prominenten Persönlichkeit Platz machen müssen, verzichten aus freien Stücken, sondern oft nur auf Geheiß der Parteileitung (oder gar des Staatspräsidenten!).

Auch für die erst gerade ernannte Premierministerin gilt indes eine ungeschriebene Regel für kandidierende Regierungsmitglieder: Wer verliert, muss abtreten! Ernsthaft gefährdet sind von den insgesamt 15 kandidierenden Mitgliedern der Regierung vor allem Damien Abad, der Minister für Menschen mit Behinderung, der wenige Tage nach seiner Nominierung von zwei Frauen wegen Vergewaltigungen angezeigt wurde, sowie Innenminister Gérald Darmanin, der als Hardliner in der Immigrationspolitik und wegen brutaler Polizeiaktionen gegen Demonstranten oder Fußballfans auch im Regierungslager umstritten ist. Die Aussicht, einen Minister eventuell mit einer Wahlniederlage abzustrafen, beflügelt vor allem die Gegner aus dem Lager der „Neuen ökologischen und sozialen Volksunion“ (Nupes) noch zusätzlich. Als Logo hat die linke Wahlunion ein mehrfarbiges V (als Symbol für „Victoire“) gewählt. Rudolf Balmer