„Indigene haben ihr traditionelles Essen verloren“

Auch in Lateinamerika droht eine Hungerkrise. Grund dafür ist auch, aber nicht nur der Krieg in der Ukraine, sagt Lola Castro, die regionale Direktorin der Welternährungsprogramms

Während der Ernte sieben Kleinbauern in Bolivien Quinoa-Körner Foto: Radoslaw Czajkowski/dpa/picture alliance

Interview Jonas Waack

taz: Frau Castro, Lateinamerika und die Karibik sind große Nahrungsmittelexporteure. Warum befürchten Sie trotzdem auch in dieser Region eine Hungerkrise?

Lola Castro: Dass Lateinamerika ein Exportkontinent ist, stimmt nicht ganz. Einige Länder exportieren Nahrungsmittel, aber viele kaufen mehr, als sie verkaufen. Wir importieren zwar nicht direkt aus der Schwarzmeerregion, aber der Krieg in der Ukraine treibt die Nahrungsmittelpreise auf der ganzen Welt in die Höhe. Und wenn ein Land vor allem Getreide importiert, werden Lebensmittel besonders für die Ärmsten der Armen viel teurer.

Können diese Länder die Ernährung nicht auf Lebensmittel wie Reis umstellen, die in der Region selbst angebaut werden können?

Im Moment sind die am meisten konsumierten Getreide Mais und Reis, aber vor allem Weizen. Und dessen Preise sind gestiegen, genauso beim Mais und bei den Speiseölen.

Steigende Nahrungsmittelpreise müssten Lebensmittelproduzenten doch eigentlich helfen.

Das große Problem ist, dass auch Dünger teurer wird oder gar nicht verfügbar ist. Die Nahrungsmittelproduzenten kaufen fast all ihren Dünger in der Schwarzmeerregion. Das wird sich nicht jetzt, aber bei der Aussaat im September und Oktober bemerkbar machen. Und davon werden nicht die großen Plantagen am meisten betroffen sein, die flexibler in der Beschaffung sind, sondern die Kleinbauern, vor allem Frauen und Indigene, die einen großen Teil der Nahrungsmittel auf dem Kontinent produzieren. Sie bewirtschaften oft nur einen Hektar, um sich selbst und den lokalen Markt zu versorgen.

Indigene sind auch auf chemischen Dünger angewiesen?

Foto: WFP

Lola Castro

wurde 1963 auf der Kanareninsel La Palma geboren. Sie leitet das Welternährungsprogramm WFP in Lateinamerika und der Karibik.

Doch, und das ist eine der Chancen, die der Preisanstieg bringt. In vielen indigen bewohnten Regionen nutzen die Menschen schon wieder natürlichen Dünger, weil sie ihn auch früher verwendet haben. Aber viele Indigene essen sehr schlecht, weil sie ihre Traditionen, ihr traditionelles Essen verloren haben, als sie europäisiert wurden. Deswegen arbeiten wir mit ihnen, um zum Beispiel Quinoa zurückzubringen, nicht nur für sie, sondern auch für die lokale Gemeinschaft. Ihre traditionellen Nahrungsmittel sind sehr nährstoffreich, aber fast vollständig verloren gegangen.

Gibt es für den Anstieg der Lebensmittelpreise in Lateinamerika andere Gründe als im Rest der Welt?

Inselstaaten in der Karibik müssen alles mit dem Schiff importieren. Seit 2019 sind die Kosten dafür, eine Tonne Fracht zu transportieren, um das Siebenfache gestiegen. Außerdem haben sich die Regierungen während Corona verschuldet und viel in Sozialtransfers investiert, aber jetzt fehlt das Geld. Die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und andere haben 2020 und 2021 große Zuschüsse und Kredite gewährt. Dieses Mal ist die Situation viel unklarer.

Was kann das World Food Program hier tun?

Wir empfehlen zum Beispiel den Regierungen und den Menschen, lokal einzukaufen. Wir arbeiten mit Kleinbauern, um mehr lokal zu produzieren, besonders für Institutionen. Ich war vor Kurzem in Kuba, wo einige lokale Gemeinschaften früher nur eine Gemüseart anbauten. Jetzt sind es sechs oder sieben, die sie an Schulen verkaufen. Dafür muss das WFP mit den Gemeinschaften arbeiten. Es geht darum, Verhaltensweisen zu verändern, aber auch Infrastruktur aufzubauen, zum Beispiel solarbetriebene Brunnen. Das funktioniert sehr gut, heute wird dort acht- oder neunmal so viel produziert.

Die Konferenz In München findet seit Dienstag eine globale Ernährungskonferenz statt. Eingeladen haben die UN-Food and Agriculture Organisation (FAO) und das World Food Programme (WFP), Partnerländer sind Israel und Brasilien.

Die Lage Die FAO hat sich in ihrem jüngsten Ausblick zur weltweiten Nahrungsmittelkrise „zutiefst beunruhigt“ gezeigt. Der Ukraine-Krieg, die Coronapandemie und Klimaveränderungen wie Dürren und Fluten führten zu sich überlappenden Krisen, „die die Fähigkeit der Menschen gefährden, Lebensmittel zu produzieren und Zugang zu ihnen zu bekommen“.

Hunger-Hotspots Das WFP identifiziert 20 Länder, in denen sich die Lage zwischen Juni und September dieses Jahres noch verschlechtern könnte. Dazu gehören Äthiopien, Nigeria, der Südsudan und Jemen, wo die höchste Hunger-Warnstufe gilt. Seit Januar neu in dieser Kategorie sind Afghanistan und Somalia. Auch für die Demokratische Republik Kongo, Haiti, den Sudan, Syrien und die Ukraine gelten schlechte Prognosen.

Hoffnungsschimmer Berichten zufolge hat die russische Führung am Dienstag mit Kiew und Ankara ein Schema zur Freigabe von Getreidelieferungen aus dem von ihrer Armee blockierten Schwarzmeerhafen Odessa abgestimmt. (dpa)

Inzwischen hat auch die offizielle Hurrikansaison begonnen. Wie wird sich das auf den Kontinent auswirken?

Natürlich gibt es jedes Jahr Hurrikans, aber für dieses Jahr werden besonders viele und besonders heftige vorausgesagt. Es soll drei oder vier Mega-Hurrikans geben, normal waren einer oder zwei. Und wegen der Klimakrise folgen sie anderen Routen als üblich. Einer aus dem Pazifik hat schon Mexiko getroffen, zugleich gibt es riesige Fluten in Südamerika. Wir sehen also ­sowohl ungewöhnliche Temperaturen als auch neuartige Trends. Es ist Dürre, wenn es normalerweise regnet, und es gibt Fluten, wenn es eigentlich trocken sein sollte. Die Bauern sind darauf nicht vorbereitet.

Welche Rolle spielen Deutschland und die EU, um die Hungerkrise zu lösen?

Gerade ist der Bedarf in der Region riesig. Anfang des Jahres waren es noch 8,7 Millionen Menschen, die höchstens eine Mahlzeit pro Tag hatten. Ein Monat nach Kriegsbeginn war es schon eine Million mehr. Wenn der Krieg weitergeht und die Preise weiter steigen, könnten es bis zu 14 Millionen werden. Für die nächsten sechs Monate brauchen wir 300 Millionen US-Dollar, und die sind nirgends auszumachen. Deswegen schlage ich die Alarmglocke, denn die Probleme in Lateinamerika sind mit dem Krieg in der Ukraine nicht plötzlich verschwunden. Ganz im Gegenteil.