: Im Untergrund
Wenn eine Metrolinie gebaut wird, ist die Zeit der U-Bahn-Archäologen gekommen. Was sie aus dem Untergrund bergen, ist nicht selten der Abfall unserer Vorfahren. Grabungen in Amsterdam zeigen aber, wie viel er über den Wandel der Zeiten in einer Stadt erzählen kann
Von Karlotta Ehrenberg
Im Prinzip haben wir im Müll gegraben“, sagt Peter Kranendonk. Er gehört zum archäologischen Team der Gemeinde Amsterdam, das im Zuge des Baus der Nord-Süd-Metrolinie nach Spuren der Vergangenheit gesucht hat. Zehn Jahre nach Ende der Arbeiten ist die Auswertung nun abgeschlossen.
Gebuddelt wurde im Bett der Amstel, des Flusses, der den Anlass für die Stadtgründung gab und den Menschen über Jahrhunderte hinweg als Transportweg, Wasserquelle und Müllkippe diente. Eine abgenutzte Speerspitze aus der Bronzezeit, Gürtelschnallen aus dem Mittelalter, zerbrochene Brillen aus dem 18. Jahrhundert, leere Telefonkarten aus den 1990ern. Fast 700.000 Fundstücke wurden insgesamt zutage gefördert.
Dass in einem Flussbett gegraben wurde, bringt eine Besonderheit mit sich. „Wir haben sehr viel organisches Material wie Knochen, Holz und Leder gefunden“, berichtet Kranendonk. „Das hat sich gut erhalten können, weil es unter Wasser keinen Sauerstoff gibt.“ An Land wäre es in kürzester Zeit verrottet.
Der gute Zustand eines Stück Leders, das einem Menschen aus dem Mittelalter als Schuh gedient hat, ist aber auch aus einem anderen Grund erstaunlich: Der Schuh wurde nicht, wie damals üblich, bis zum völligen Verschleiß getragen. Ein Umstand, der wohl ebenfalls mit dem Fundort zu tun hat. In einen Fluss gerät auch vieles unabsichtlich.
Zählt man die Voruntersuchungen mit, haben Kranendonk und seine Kolleg*innen über neun Jahre lang gegraben und dabei jeden noch so kleinen Fund gereinigt, dokumentiert, bestimmt und verpackt. Der Grund für die Akribie: Die beiden Grabungsstätten in der historischen Altstadt sind zentral für die Geschichte von Amsterdam. Der Damrak war der Ort, an dem die Stadt im 13. Jahrhundert gegründet wurde. Hier befand sich der Seehafen, er war sozialer Treffpunkt und Teil der städtischen Verteidigungsanlage. Die Amstel wurde hier eigens für die Bauarbeiten umgeleitet. Eine einmalige Gelegenheit für die Archäolog*innen, um in das Flussbett zu gelangen.
„Alles, was größer war als ein Zentimeter, wurde ausgesiebt“, sagt Kranendonk. Über 450.000 Objekte wurden am Damrak geborgen, die ersten stammen aus der Jungsteinzeit, wie etwa eine steinerne Axt. Die jüngsten lassen sich auf das Jahr 2005 datieren, zum Beispiel die kleine Metallscheibe mit „Megaman“ drauf. Die gab es damals als Zugabe in Chipstüten.
Diese und rund 19.000 andere Funde kann man auf einer großartig gestalteten Webseite selbst entdecken. Bibliophilen sei das prämierte Buch über die Funde empfohlen: „Stuff“.
Oder aber man stattet beim nächsten Amsterdamtrip der Metrostation Rokin einen Besuch ab, wo 9.500 Funde dauerhaft ausgestellt sind. Viele von ihnen stammen direkt von diesem Ort: Am Rokin lag das Zentrum der Stadt während ihrer Blütezeit im 17. Jahrhundert; belegen können dies etwa die vielen Pfeifen, die hier gefunden wurden. Im Zuge des Tabakimports von Übersee kam Rauchen in Mode. Bis 1937 gab es hier den Binnenhafen, dann wurde der Fluss an dieser Stelle zugeschüttet und unterirdisch weitergeleitet.
Viel interessanter als die Einzelstücke selbst waren das Vergleichen und Kontextualisieren, meint Kranendonk. Erdschicht für Erdschicht ließ sich die Entwicklung der Stadt nachvollziehen. Anhand spezieller Keramik konnte bestätigt werden, dass es am Rokin eine Zuckerraffinerie gegeben hat – die Scherben wurden gleich vor der Haustür ins Wasser geworfen. Und auch über Zeiten, über die es keine historischen Quellen gibt, ließen sich Mutmaßungen anstellen. So deuten Funde wie Knochen und Keramikscherben darauf hin, dass es in der Gegend schon in der Frühzeit Siedlungen gegeben hat.
Im Netz erfährt man nicht nur genau, worum es sich bei den einzelnen Funden handelt, und welche Funktionen sie einst hatten – anhand der Anordnung der Dinge entlang einer Zeitleiste lässt sich auch ihre Evolution nachvollziehen. Je jünger die Erdschicht, desto mehr Dinge wurden gefunden. Was nicht nur an der erhöhten Produktion, sondern auch am veränderten Konsum der Menschen liegt. „Im Laufe der Zeit wird immer weniger wiederverwendet oder repariert“, sagt Kranendonk.
Die Zahl der Dinge variiert aber auch innerhalb einzelner Perioden. So ist Kranendonk überzeugt, eine wirtschaftliche Krise in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erkennen zu können: „Das Material wird in dieser Zeit weniger.“ Die Bevölkerung nimmt ab, es wird weniger produziert und konsumiert. Wo zuvor noch kräftig Wein gebechert wurde, finden sich eine Zeitschicht darüber weniger Flaschen und Gläser.
Der Müll aus der Amstel erzählt also nicht nur von der goldenen Ära der Stadt, sondern auch von den dunklen Zeiten. Zur Geschichte Amsterdams gehört auch die Versklavung und Ausbeutung der Menschen in den Kolonien. Vor allem gibt der Müll im Fluss aber Auskunft über das Alltagsleben der einfachen Leute. Die Dinge, die in Museen über Jahrhunderte aufbewahrt wurden, weil sie als besonders wertvoll gelten, vermögen das nicht. Peter Kranendonk sagt: „Man könnte jetzt zum Rijksmuseum gehen, die vielen schönen Sachen betrachten und denken: So war es damals. Aber das ist nur das Material der oberen Schicht. Alles andere Material, das ohne oder mit wenig Wert, das liegt hier. Das ist die Bedeutung der Archäologie – dass man etwas über das normale Leben erfährt.“
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