Christa Pfafferott Zwischen Menschen: Arme Leute
Christa Pfafferott ist Autorin und Dokumentar-filmerin. Sie hat über Macht-verhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.
Vor kurzem saß ich in Hamburg im Café gegenüber eines Drogeriemarkts. Die Sonne schien durch die Bäume auf die Straße. Direkt vor dem Laden an der Ecke saß ein Obdachloser im Rollstuhl. Ein Bein von ihm war amputiert, das leere Hosenbein baumelte zu einem Knoten gebunden unter seinem Knie. Der Mann schlief. Weit vornübergebeugt hing er in seinem Rollstuhl. Sein Gesicht und seine Hände waren rot und aufgedunsen. In der Hand hielt er einen Pappbecher.
Ich hatte ihn schon oft vor dem Drogeriemarkt gesehen, er wirkte jedes Mal völlig mit etwas zugedröhnt. Wer in den Drogeriemarkt hineingeht, muss physisch und gedanklich zuerst an ihm vorbei. Oft habe ich mich gefragt, warum er immer kommt, selbst wenn er so weggetreten ist, dass viele Leute bewusst von ihm wegblicken. Ich fragte mich auch, wie es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein muss, an der Tür an der Kasse zu sitzen und den ganzen Tag auf diesen Mann in seiner offensichtlich labilen Verfassung zu blicken.
Je länger ich im Café saß, umso mehr sackte der Mann nach vorne, bis sein Oberkörper auf seinen Knien lag. Sein Becher fiel ihm aus der Hand. Da kam eine Mitarbeiterin aus dem Drogeriemarkt heraus. Ich rechnete damit, dass sie den Mann verscheuchen würde. Doch sie stupste ihn vorsichtig an.
Er wachte auf. Sie hob den Becher auf, drückte ihn ihm zurück in die Hand, sie rückte seine Decke zurecht. Er setzte sich zurück. Sie richtete ihn im direkten Wortsinne auf. Sie sprach zu ihm, er murmelte etwas. Dann ging sie wieder hinein. Er saß nun gerader, wie kurz herausgerissen aus einer Nebelwelt, ins Jetzt mitgenommen.
Als ich die Mitarbeiterin sah, dachte ich, wie selten es ist, dass Menschen so bewusst auf Bettelnde eingehen. Und ich dachte auch, warum es eigentlich so viele bettelnde Menschen im reichen Hamburg gibt. In der Innenstadt oder den umliegenden Vierteln wie St. Pauli und Altona scheint es immer mehr Menschen zu geben, die nach Geld fragen, die verloren wirken.
Manche sagen, dass Sie grundsätzlich Bettelnden kein Geld geben würden, weil in Deutschland keiner auf der Straße landen müsse. Aber ist das so? Es gibt im Leben von meist jedem Menschen auch schlechte Zeiten, durch einen Schicksalsschlag, Pech, Krankheit, Liebesnot, eine finanzielle Notlage.
Es kann dann leichter passieren, die Wohnung zu verlieren, nicht mehr die Kraft zu haben weiterzumachen. Wer kein soziales Netz und keine Menschen hat, die einen im wahrsten Wortsinne aufrichten, kann leicht fallen. Auch im Sozialstaat Deutschland. Niemand ist davor geschützt. Wirklich keiner.
Das Europäische Parlament hat die EU-Mitgliedsstaaten dazu aufgerufen Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen: „Obdachlosigkeit wird als eine der schwersten Formen von Armut und Entbehrung eingestuft“. In Hamburg, wo so viele neue Hotels und Büroräume entstehen, existiert immer noch viel zu wenig sozialer Wohnraum. Vergangenes Jahr sind mindestens 29 Menschen auf Hamburgs Straßen gestorben. Es ist für das Leben der Stadt, auch für ihr Bild von sich, essenziell, an der Vorgabe des Europäischen Parlaments mit konkreten Maßnahmen zu arbeiten.
Den Mann im Rollstuhl habe ich letztens vor einem anderen Café gesehen. Er hat laut geschnarcht. Direkt daneben haben Gäste Kaffee getrunken. Was an dem Mann auffällt: Egal, wie es ihm zu gehen scheint, immer sucht er die Nähe zu Menschen.
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