: „In den Heimat-Debatten ging es um Abgrenzung, aber wenig um das, was vorder eigenen Haustür passiert“
Kristine Bilkau liest in Rendsburg und Eckernförde aus ihrem ausgezeichneten Roman „Nebenan“
Kristine Bilkau
47, Schriftstellerin, lebt in Hamburg. Ihr Roman „Nebenan“ wurde mit dem Hamburger Literaturpreis 2021 ausgezeichnet.
Interview Lenard Brar Manthey Rojas
taz: Frau Bilkau, auf den ersten Seiten von „Nebenan“ verschwindet eine Familie spurlos und kaum jemand bemerkt es. Bildete diese Idee den Ursprung Ihres Romans?
Kristine Bilkau: Für mich gibt es immer mehrere von mir sogenannte Keime: kleine Themen und Ideen, denen ich auf die Spur gehen muss. Bei diesem Roman waren das zum einen die verblassenden Innenstädte der kleineren Städte. Was sagt das über unser Miteinander, wenn diese Orte veröden und sich scheinbar kaum jemand kümmert? Auch das Verschwinden der Familie war eine frühe Idee von mir. Das hat für mich mit den blinden Flecken unseres sozialen Miteinanders zu tun.
Die Ortschaften im Roman erscheinen als Anti-Idylle: Sie sind von verlorenen Hoffnungen und bedrohlicher Stimmung geprägt. Würden Sie diese Bezeichnung gelten lassen?
Ich würde es nicht nur so düster auffassen. Diese Orte haben mehrere Seiten. Für mich geht es um die gebrochenen Landschaften, die aber auch vielfältig sein können. Ich finde die Zuschreibung Provinz zu vereinfacht. Mir war wichtig zu zeigen, dass sich unter diesem Begriff Unterschiedliches sammelt. Der Roman ist teilweise eine Anti-Idylle, aber dann stellt sich mir die Frage: Liegt das an den Orten oder daran, was die Menschen aus ihnen machen und wie sie ihr Miteinander gestalten?
Die Protagonistin Julia scheint sich in einer Instagram-ähnlichen Welt zu verlieren. Wie denken Sie über soziale Medien?
Ich lehne soziale Medien nicht grundsätzlich ab. Ich wollte davon erzählen, ohne zu urteilen. Mich interessieren die Sehnsüchte der Menschen, die dort kursieren und wo sie hinführen.
Ist Ihr Roman ein Appell für mehr Gemeinschaftssinn und Achtsamkeit?
Kristina Bilkau: „Nebenan“, Luchterhand-Literaturverlag, 288 S., 22 Euro
Lesungen: 12. 5., Rendsburg, Nordkolleg, 19.30 Uhr;14. 5. Eckernförde, Künstlerhaus, 19 Uhr
Auf jeden Fall. Ich habe das Buch bewusst ins Jahr 2017 verlegt. Die Zeit des Brexit, der Trump-Wahl, des Umgangs mit Geflüchteten in Europa war stark von anti-solidarischen politischen Bewegungen geprägt. Auch in den Heimat-Debatten bei uns ging es viel um Abgrenzung, aber wenig um das, was vor der eigenen Haustür passiert, etwa wenn in kleineren Städten der Leerstand zunimmt und soziale Orte verschwinden.
Die Figur Andreas bemüht sich, die politischen Brüche seiner Zeit zu begreifen und erwirbt Stefan Zweigs Autobiografie „Die Welt von gestern“. Warum diese Verknüpfung?
Stefan Zweig beschreibt ein behütetes, aber auch behäbiges Lebensgefühl: Ein Bürgertum, das sich an Wohlstand und Sicherheit gewöhnt hat und keinen Blick für die Entsolidarisierung und die Kriegsstimmung in dem Europa seiner Zeit hat. Man soll historische Epochen nicht zu leichtfertig vergleichen, dennoch musste ich in den vergangenen Jahren oft an Zweigs Buch denken und habe es im Roman anklingen lassen. Meine Figuren verhalten sich paradox: Sie ziehen sich ins Private zurück, zugleich sehnen sie sich nach sozialer Verbundenheit.
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