berliner szenen
: Niemand guckt mehr hin

Ich bin zwischen zwei Online-Meetings kurz rausgegangen, um mir Zigaretten zu kaufen, und merke erst im Supermarkt, dass sich mein Portemonnaie in einer anderen Handtasche befindet. Vor dem Supermarkt sitzt eine junge Frau und raucht. Kurzentschlossen krame ich ein 50-Cent-Stück aus der Hosentasche und frage sie, ob ich ihr eine Zigarette abkaufen kann: „Der Kiosk darf keine einzelnen Zigaretten verkaufen.“ Sie grinst: „Ich habe nur Tabak. Du kannst dir gerne eine Zigarette drehen.“ Ich setze mich zu ihr auf die Bank.

Als ich mich verabschiede, um das nächste Online-Meeting zu schaffen, meint sie: „Ich muss auch wieder rein“, und deutet auf die große Unterkunft für Geflüchtete hinter uns. Ich frage neugierig: „Wie ist es da?“ Sie erzählt, dass sie in allen möglichen Unterkünften gearbeitet habe und diese mit Abstand die beste sei: „Eher wie ein großes Mietshaus. Die Leute haben eigene Wohnungen und keine Gemeinschaftsräume.“ Sie hoffe nur, dass die dort 2015 Angekommenen auch wirklich langfristig bleiben könnten. Von anderen Unterkünften höre sie, dass die Untergebrachten sich um eigene Wohnungen kümmern sollten, um Platz für die nun ankommenden geflüchteten Menschen zu machen: „Dabei gibt es doch gar keinen bezahlbaren Wohnraum mehr in der Stadt.“

Sie kommt in Fahrt: „Manche in meiner Unterkunft bekommen gerade richtig Angst, dass sie jetzt abgeschoben werden, um Platz für neue Geflüchtete zu schaffen.“ Sie winkt ab: „Ich muss jetzt los. Aber über die Doppelmoral in der Debatte über Geflüchtete könnte ich mich stundenlang aufregen. Ich war vor Jahren als Helferin in Griechenland. Die Menschen, für die ich da übersetzt habe, hängen zum Großteil noch immer dort fest. Und niemand guckt mehr hin.“

Eva-Lena Lörzer