Krieg in der Ukraine: Wo die Schwächsten gerettet werden
Sonja muss ein Granatsplitter aus dem Kopf operiert werden. Milana wird von einer Rakete verletzt. Eindrücke aus einem Kinderkrankenhaus in Kiew.
E in Krankenbett steht hinter dem anderen, in einem langen Korridor im Erdgeschoss des Kinderkrankenhauses „Ochmatdit“ in Kiew. Darauf liegen alle möglichen Gegenstände – Decken, Handtücher, Bücher, Taschenlampen und Aufladegeräte für Handys. Doch alle Betten sind leer, die Patient*innen kommen nur nachts hierher. Die restliche Zeit verstecken sie sich vor möglichen Luftangriffen.
In dem Korridor ist auch ein Schrank mit Medikamenten und einer Mikrowelle zu sehen. Daneben stapeln sich Vorräte an Lebensmitteln. Die Krankenstation ist mittlerweile so ausgestattet, dass Ärzt*innen und Patient*innen hier mehrere Tage lang ausharren können. So wie im März, als Kiew noch permanent beschossen wurde. Der Flur ist nur einer von einem Dutzend solcher Korridore im größten ukrainischen Kinderkrankenhaus „Ochmatdit“, das sich in der Nähe des Zentrums der ukrainischen Hauptstadt Kiew befindet.
In den allerersten Stunden der russischen Invasion begann das Krankenhaus Kinder aufzunehmen, die durch Granaten verwundet worden waren. Das jüngste war gerade einmal einen Monat alt. Während der Explosion hatte die Mutter das Kleine mit ihrem Körper schützen können, sodass es nur leicht verletzt wurde.
Um den Opfern schneller zu helfen, wurde die Notaufnahme direkt hierher verlegt. Daneben wurden drei Operationssäle eingerichtet. In dieser neuen Abteilung herrscht permanenter Ausnahmezustand, das Personal arbeitet rund um die Uhr. Mindestens sieben Spezialist*innen sind hier immer im Einsatz – Chirurg*innen, Kinderärzt*innen, Radiolog*innen, Anästhesist*innen und andere Fachärzt*innen.
„13 Minuten von der Diagnose bis zum Operationstisch, das war unser Rekord“, sagt der Leiter der Abteilung und Intensivmediziner Andrei Vysotzki. In dieser Zeit sei es ihnen gelungen, den Patienten zu untersuchen, zu röntgen, notwendige Tests zu machen und den Operationssaal vorzubereiten.
Am häufigsten werden Kinder mit Verletzungen an den Gliedmaßen hierhergebracht – sei es durch Schüsse oder Minen, aber auch Fälle mit schweren Blutungen sind dabei. Alle Ärzt*innen des Krankenhauses sagen, sie hätten sich niemals vorstellen können, dass sie irgendwann das Leben von Kindern mit Kriegsverletzungen retten müssen.
In der hintersten Ecke des Korridors im Kellergeschoss flackert das beleuchtete Display eines Smartphones. Die 13-jährige Sonja liest gerade Nachrichten. Außer dem Mädchen, ihrer Mutter und einer Krankenschwester ist niemand zu sehen. „Wir bleiben, auch wenn kein Luftalarm ist, hier es ist einfach ruhiger“, sagt Sonjas Mutter Ljudmila.
Das Mädchen hat kurze Haare, der Kopf ist mit einem Verband umwickelt, aus dem eine Art Schlauch heraushängt. Die 13-Jährige musste sich vor wenigen Tagen einer äußerst schwierigen Operation unterziehen – ein Granatsplitter musste entfernt werden, der in ihren Kopf eingedrungen war. Sie hat Schwierigkeiten, auf dem Bett zu sitzen, die rechte Hand will immer noch nicht gehorchen.
Am 5. März war ihr Heimatdorf in der Region Mykolajiw unter Beschuss der russischen Armee geraten. Mutter und Tochter standen vor ihrem Haus, als es zu einer schweren Explosion kam. „Wir hörten das Pfeifen eines Geschosses, und meine Mutter rief: „Sonja, lauf!“ Ich habe nur drei Schritte gemacht und dann das Bewusstsein verloren“, erzählt Sonja, ihre Stimme ist ganz leise und klingt heiser.
Als sie wieder aufwachte, habe sie gesehen, wie ihre Eltern versuchten, sie in den Keller des Hauses zu tragen. „Meine Mutter packte mich an den Beinen, mein Vater an den Händen. Dann wurde ich wieder bewusstlos“, erzählt sie.
So ging das mehrere Male, während die Eltern in Panik alles daransetzten, ihre Tochter ins Krankenhaus zu bringen. Die ganze Zeit wurde geschossen. Als sie wieder aufwachte, war sie bereits im Krankenhaus von Mykolajiw und schon operiert worden. „Anfangs wusste ich überhaupt nicht, was passiert war, aber nach einer Weile kamen die Erinnerungen wieder zurück. Die erste war eine Explosion“, sagt Sonja.
Auch als die 13-Jährige in Mykolajiw behandelt wurde, war die Stadt unter dauerndem Beschuss. Die Ärzt*innen waren jedoch nicht in der Lage, den Granatsplitter zu entfernen, denn dieser steckte zu tief im Gehirn des Mädchens. Drei Wochen dauerte es, bis Sonja endlich nach Kiew evakuiert werden konnte. In dieser Zeit litt sie unter starken Kopfschmerzen, ihre rechte Körperhälfte war wie gelähmt. „Als Sonja nach der ersten Operation wieder aufwachte, war ich glücklich. Doch die Ärzt*innen haben mir gleich gesagt, dass eine solche Operation immer sehr schwierig und riskant sei“, erzählt Mutter Ljudmila, während ihr Tränen über das Gesicht laufen. „Aber sie lebte. Wie es mit ihr weitergehen würde, danach habe ich mich gar nicht mehr getraut zu fragen“, sagt sie.
Erst am 29. März und damit 24 Tage nach der Explosion konnte der Granatsplitter bei Sonja operativ entfernt werden. Der Eingriff dauerte zwei Stunden. „Wir hatten Glück. Nur zwei Zentimeter weiter rechts, links, oben oder unten, und lebenswichtige Teile des Gehirns wären irreparabel geschädigt gewesen“, sagt der Chirurg Pawlo Plawski, der Sonja das Leben gerettet hat. In seiner Handfläche liegt ein sechs bis sieben Millimeter langes Stück Metall – der Splitter, den er aus Sonjas Hirn entfernt hat. „Dass Sonja trotz allem drei Wochen überlebt hat und sich jetzt langsam von der Operation erholt, ist für mich wie ein Wunder“, sagt Plawski und nimmt Sonja bei der Hand.
Die 13-Jährige hat noch einen langen Weg bis zur Genesung vor sich. Und auch im Dach ihres Hauses klafft nach dem Angriff ein riesiges Loch. Trotzdem träumt sie davon, so schnell wie möglich nach Hause zurückzukehren: Sie würde gerne wieder in der Nähe ihres Dorfes um die Wette schwimmen, Fische fangen und ihre Freund*innen sehen. Vor allem aber will sie wieder zeichnen und Gitarre spielen, was sie vor dem Krieg oft und gerne gemacht hat.
„Papa hat versprochen, dass er mir neue Noten kauft und die alte Gitarre repariert, wenn ich endlich nach Hause komme“, sagt Sonja, und dabei huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Dann wirft sie ihrer Mutter einen verstohlenen Blick zu und sagt: „Aber am liebsten hätte ich eine neue Gitarre mit sieben Saiten.“
Sonjas Geschichte ist einzigartig, doch für die Ärzt*innen in Kiew und in anderen Kliniken der Ukraine ist sie seit zwei Monaten eine von Hunderten. Im „Ochmatdit“ wurde auch der 13-jährige Bobi gerettet. Er und seine Familie waren in Kiew unter Beschuss geraten, als sie versuchten, sich evakuieren zu lassen. Sein Vater und sein sechsjähriger Bruder waren auf der Stelle tot. In das Haus der sechsjährigen Milana in Hostomel schlug eine Rakete ein, die Mutter starb vor den Augen des kleinen Mädchens. Milana wurde durch Granatsplitter an ihren Beinen und Armen schwer verletzt.
Auch der fünfjährige Dima hat schwerste Verletzungen an seinen Beinen erlitten. Als seine Familie versuchte aus Tschernihiw zu fliehen, schlug eine Granate nur fünf Meter entfernt von ihrem Auto ein. Dima erwischte es am schlimmsten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Doch nicht alle Geschichten gehen gut aus. Oft genug sterben dem medizinischen Personal ihre kleinen Patient*innen einfach unter den Händen weg. Offiziellen Angaben zufolge sind bislang über 200 Kinder infolge der Kampfhandlungen ums Leben gekommen, die meisten davon in den Gebieten Donezk, Kiew und Charkiw.
„Das allererste Opfer, das nach Ochmatdit gebracht wurde, war ein Junge, dessen Namen wir nicht kannten. Wir haben ihn dann den ‚Unbekannten Nummer eins‘ genannt“, erzählt die Pressesprecherin des Krankenhauses Anastasia Maggeramowa. „Das Kind hatte eine schwere Wunde am Hals. Russische Soldaten hatten die Eltern und die Schwester des Jungen erschossen. Später stellte sich heraus, dass er Semjon hieß. Er starb fünf Tage später auf der Intensivstation“, sagt Maggeramowa. Sie wohnt, wie alle anderen Ärzt*innen und Pfleger*innen auch, im Krankenhaus.
Maggeramowa dokumentiert alle Geschichten ihrer jungen Patient*innen, die Kriegsverletzungen davongetragen haben, und stellt diese Informationen der Krankenhausleitung zur Verfügung. „Damit die ganze Welt von Russlands Verbrechen an den ukrainischen Kindern erfährt“, sagt sie.
Die Ärzt*innen und Pfleger*innen sagen, dass sie keine Zeit haben, sich ihrer Verzweiflung hinzugeben. Denn dann wären sie nicht in der Lage, den Patient*innen, deren Leben in Gefahr ist, die notwendige Hilfe zu leisten. „Über alles nachzudenken, das leisten wir uns später, nach dem Sieg“, sagt etwa ein Arzt auf der Intensivstation.
Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stitung
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
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