„Ausgrenzung durch Arbeit“

Peter Birke hat zu Arbeitsverhältnissen von Mi­gran­t*in­nen in der Fleischindustrie und im Versandhandel geforscht. Arbeitssoziologisch ist das bislang kaum untersucht worden

Viele müssen Fleisch zerlegen, weil sie sonst nichts finden Foto: Mohssen Assanimoghaddam/dpa

Interview Nadine Conti

taz: Herr Birke, Ihr aktuelles Buch heißt „Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland“. Um welchen Zeitraum geht es da?

Peter Birke: Wir haben am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (Sofi) 2016/2017 angefangen, die Arbeitsverhältnisse zu untersuchen, die Mi­gran­t*in­nen eingehen, die neu nach Deutschland kommen. Es kristallisierte sich dann aber ziemlich schnell heraus, dass der Anteil von neuen Mi­gran­t*in­nen in Bereichen sehr hoch ist, die stark von prekärer Beschäftigung geprägt sind: also Leiharbeit, Werkverträge, befristete Beschäftigungen, oft niedrige und nicht existenzsichernde Löhne. Um das näher zu beleuchten, habe ich mich auf Fleischindustrie und Online-Versandhandel konzentriert.

Das sind Bereiche, die auch im Zuge der Coronakrise sehr im Fokus waren.

Ja, in dieser Zeit ist wahnsinnig viel passiert. Unser Projekt, das vom Land Niedersachsen gefördert wurde, sollte da eigentlich schon aufhören. Die Finanzierung lief nur bis 2020. Aber wir haben dann einfach weitergemacht, weil all diese Betriebsschließungen, Masseninfektionen, die öffentliche Skandalisierung rund um Tönnies, aber auch die Arbeitskämpfe und Streiks plötzlich noch einmal eine ganz andere Dynamik gewannen. Und es folgten dann – vor allem mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz – ja auch gesetzliche Regulierungen.

Sie haben im Wesentlichen mit langen, qualitativen Interviews gearbeitet, also mit den Leuten über ihre Arbeitserfahrungen, ihre Biografie und ihre Zukunftshoffnungen gesprochen. Wie sind Sie denn an die Leute herangekommen?

Wir hatten am Anfang des Projekts, ehrlich gesagt, keine so richtig gute Vorstellung davon, wie schwierig das ist. Also, eigentlich ist das Sofi ja ein etabliertes Forschungsinstitut mit viel empirischer Erfahrung, aber eben nicht unbedingt in diesen Branchen. So haben wir über ein Jahr gebraucht, bis wir das Management einiger weniger Betriebe davon überzeugt hatten, dass wir keine Journalisten sind, die ihnen gleich den nächsten Skandal um die Ohren schlagen wollen, sondern dass wir Forschung machen. Immerhin konnten wir dann auch Interviews mit Ma­na­ge­r*in­nen machen, aber der Hauptzugang blieben Beratungsstellen wie Faire Mobilität oder die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg sowie im Versandhandel die Aktiventreffen der Gewerkschaft Ver.di.

Sie haben gesagt, die Skandale im Laufe der Pandemie hätten durchaus zu Veränderungen geführt. Lässt sich schon abschätzen, wie wirkungsvoll und nachhaltig die sind?

In der Fleischindustrie ist es so, dass dieses System der Werkverträge erst einmal gestoppt ist. Damit hat man ja vorher die Verantwortung völlig an die Subunternehmer abgegeben. Und Arbeitsbedingungen geschaffen, die ihresgleichen suchten: 16-Stunden-Schichten, 7-Tage-Woche, schwere Arbeitsunfälle. Das war alles an der Tagesordnung – obwohl das natürlich auch da schon eigentlich illegal war. Von daher ist das Verbot von Werkverträgen ein großer Fortschritt, der meines Erachtens auch noch für etliche andere Bereiche erreicht werden müsste. Denn es ist ja nicht ganz logisch, wenn man solche Beschäftigungsverhältnisse in der Fleischindustrie verbietet, in der Logistikbranche, am Bau oder auf Werften aber weiter duldet.

Foto: privat

Peter Birke

56, koordiniert die Forschungsperspektive „Sozialökonomie von Arbeit“ am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen und ist Redakteur der Zeitschrift „Sozial.Geschichte Online“.

Aber wirkt das Verbot denn?

Das ist die zweite Frage. Um das zu beurteilen, muss man ein paar Aspekte berücksichtigen, die auch im Buch ganz wichtig sind. Der erste ist: Ursächlich für die Ausbeutungsverhältnisse ist oft nicht alleine das Arbeitsverhältnis als solches. Viele Leute arbeiten bei diesen Betrieben, weil sie sonst nichts finden. Das machen sie wiederum, weil sie arbeiten müssen, um ihren Aufenthalt zu verstetigen, weil sie – als EU-Migrant*innen – keinen Anspruch auf Sozialleistungen durchsetzen können, weil sie viel Geld für eine miese Unterkunft oder überhöhte Reisekosten abbezahlen müssen. Wir haben das in unserer Studie als „multiple Prekarität“ bezeichnet. Deshalb muss an verschiedenen Schrauben gedreht werden, am Aufenthaltsrecht, am Sozialrecht, an den Wohnbedingungen, um letztlich eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse neuer Mi­gran­t*in­nen zu bewirken.

Inwiefern unterscheiden sich die Strukturen bei Amazon von denen in der Fleischindustrie?

Erst einmal gibt es überraschende Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Sektoren. Das ist auch ein wichtiger Punkt, bei dem das öffentliche Bild oft nicht so ganz stimmt: wenn man immer denkt, migrantische Arbeit findet in irgendwelchen dreckigen, lärmigen Hinterhofbetrieben statt. In Wirklichkeit sind das hochmoderne Betriebe mit einer massiven, dynamischen Expansionsstrategie. Das Amazon-Lager, das wir untersucht haben, war zu diesem Zeitpunkt das technisch modernste in ganz Europa.

Und in der Fleischindustrie?

Das gilt auch für die Fleisch­industrie, wo in den letzten Jahren zum Beispiel niederländische Konzerne angefangen haben, in Deutschland zu investieren, weil es hier billiger ist. Amazon scheint aber geschickter darin zu sein, Veränderungsimpulse abzuwehren. Auch weil hier nie eine Situation entstanden ist, wo sich der Staat genötigt gefühlt hätte, einzugreifen. Bei Amazon hängt mehr an der gewerkschaftlichen Ebene. Die ist zwar an einzelnen Standorten gut organisiert, kann bei dem Expansionstempo des Unternehmens aber nur schwer mithalten.

Die Studie „Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland“ ist im Mandelbaum-Verlag erschienen (398 S., 27 Euro)

Was ist an Ihrer Studie neu?

Arbeitssoziologische Forschung hat sich bisher kaum mit den geschilderten Arbeits- und Lebensverhältnissen befasst. Die Migrationssoziologie schon eher, doch bis 2016 war es ja auch so, dass neu ankommende Mitglieder aus Drittstaaten erst mal gar keine Arbeitserlaubnis bekommen haben. Deswegen ist diese Konstellation relativ neu, erinnert vielleicht in manchem mehr an das Migrationsregime vor 1973. Hinzu kommt aber, dass die damals entwickelten Bezugspunkte auf Regulierung im Sinne von tariflichen und rechtlichen, sozialen Ansprüchen in vielen Branchen im Vergleich zu den 1960ern und 1970ern heute schlichtweg verschwunden sind. Und vieles, was wir hier nunmehr sehen – besonders die Bedeutung von informellen Machtbeziehungen und Gewalt –, kannten wir früher nur aus dem globalen Süden. Wir haben unser Projekt auch auf verschiedenen internationalen Konferenzen vorgestellt. Da war es immer so, dass Leute aus Brasilien oder Indien auf Anhieb am meisten damit anfangen konnten – aber gleichzeitig auch geschockt waren, dass es so etwas bei uns auch gibt, weil sie von Arbeitsbeziehungen in Deutschland ein anderes Bild hatten.

Was heißt denn das jetzt für dieses „Integration durch Arbeit“-Paradigma?

Wenn man jetzt in einigen Bereichen Verhältnisse hat, wo die gesamte Belegschaft keinen deutschen Pass hat, dann muss man schon mal fragen, wie das da funktionieren soll, diese Integration durch Arbeit. Und wenn man an die gesundheitliche Vernutzung, die Unfälle, die Dauernachtschichten, die 7-Tage-Woche, den Lohnbetrug et cetera denkt, dann muss man schon fragen, ob das nicht das Gegenteil ist – eben Ausgrenzung durch Arbeit. Das ist natürlich auch im Hinblick auf die aktuell steigenden Zahl der Geflüchteten aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ein Thema. Der Fleischkonzern Tönnies hat schon angefangen, unter ihnen um Arbeitskräfte zu werben.