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Ausgehen und rumstehen von René HamannLieber fernsehen nach der Party

Foto: privat

Früher war alles zu früh, heute ist alles zu spät. Eine Lesung um sechs am Nachmittag? Früher undenkbar, da aß man doch gerade erst zu Mittag. Heute noch Party nach dem taz lab? Gut, gerne, aber eigentlich wollte ich spätestens zum „aktuellen sport-studio“ wieder zu Hause sein. Passenderweise spielte das DJ-Team gerade „Should I Stay or Should I Go?“, einen alten Punk-Hit, der später durch eine Levi’s-Werbung wiederaufgelegt wurde, als mir erstens auffiel, dass ich mich doch noch fest­gequatscht hatte mit „späten“ Partygästen, und zweitens, dass ich im Denken und Tun noch sehr im 20. Jahrhundert verhaftet bin. Zwei DJs mit zwei Laptops statt Plattentellern? Ich rümpfe die Nase. Zu Sendungsbeginn einer Sportsendung zu Hause sein wollen? Die Möglichkeiten einer Mediathek haben sich einfach noch nicht in mein Bewusstsein hochgeladen.

Kurz zuvor, kurz nach der Lesung der Wahrheit, war ich auf meine Tragetasche des Sportartikelherstellers Adidas angesprochen worden. Leserinnenkontakt ist immer erfreulich, da man plötzlich mit ganz anderen Realitätsvorstellungen konfrontiert wird. Ob es nicht komisch sei, auf einer Veranstaltung der taz Werbung für Adidas zu machen, dafür sei sie schließlich nicht hergekommen, sagte eine unauffällig gekleidete, graumelierte Dame in einer Mischung aus ernsthafter Empörung und sanfter Kritik zu mir. Zugegeben, der Markenschriftzug auf meiner Tasche, die ich erstens geschenkt bekommen habe und die zweitens meines Wissens über ebay Kleinanzeigen erstanden wurde, ist etwas aufdringlich. Aber bezahlt werde ich fürs Tragen dieser Tasche leider nicht, wie ich der Dame versicherte. Eigentlich schade. Aber fürs Fernsehgucken wird man ja auch nicht bezahlt.

Erst neulich habe ich wieder einmal gelesen, dass es ein Distinktionsmerkmal ist, ein Zeichen der Klassenzugehörigkeit, mit oder ohne Markenzeichen herumzulaufen. Ich hatte diese Alltagskonflikte und Modezeichen schon fast wieder vergessen. Aber es war noch so: Den einen kann das Adidas gar nicht groß genug sein, die anderen wollen ihr nachhaltig produziertes, unfunky Outfit von Grüne Erde lieber unerkannt wissen. Bei Outdoormarken wie North Face oder Jack Wolfskin ist das merkwürdigerweise schon wieder nicht mehr so. Und Sportler werden fürs Zeigen der Marke am Ende doch bezahlt. Aber wer ist schon Sportler?

Eine andere Leserin hatte mir kurz zuvor das Reinschnuppern in ein Freiluft-Panel im ­schönen Besselpark mit dem berühmt-berüchtigten Welt-Chef Ulf Poschardt verleidet. Natürlich gibt Poschi, wie ihn Fans und Verachter nennen, immer ein ­gutes, weil sehr ­wendiges und schnelles Feindbild ab, aber ihn mit der, gelinde gesagt, zu heimspielsicher vor­getragenen und dabei wenig innovativen Kritik des Machismo und des Manspreading zu traktieren, ist, nun ja, auch ein wenig „aus der Zeit gefallen“ (Bundes­­kanzler Scholz). Da lieber breitbeinig auf dem Podium sitzen.

Auf dem traditionellen ­Umzug zum 1. Mai tragen die Leute fast das Übliche. Adrette Frauen in beigefarbenen Mänteln aus Wolle sieht man dort jedenfalls nicht. Dass die Revolutionäre Demo direkt an meiner Haustür vorbeiläuft, ist allerdings neu. Etwa die Hälfte der Demonstrierenden trägt Maske. Früher war es traditionell laut, müllig, kaum auszuhalten bei diesem Berliner Straßenkarneval mit Räuber-und-­Gendarm-Spiel im Anschluss, heute ist es lange ruhig. Erst spät am Nachmittag beginnt ein leises ­Dröhnen von den fahrbaren ­Musikanlagen (vermutlich ­spielen Laptops die Musik ab) wie aufziehende Kopfschmerzen in die Hinterhauswohnung zu steigen; auch die Hubschrauber beginnen ihr beobachtendes Kreisen erst spät. Ich bin dann runter, um mir das Spektakel aus der Nähe anzuschauen, und später aber doch recht früh ins Bett.

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