Wolodimir Selenskis lange Liste an Bedingungen

Ein Interview mit dem ukrainischen Präsidenten zeigt, wie weit die Kriegsparteien von einer Verhandlungslösung entfernt sind

Allein die Abhaltung eines Referendums dürfte mehrere Monate in Anspruch nehmen

Von Bernhard Clasen

Während der russische Angriff auf die Ukraine an vielen Stellen zum Erliegen kommt, werden die Diplomaten zunehmend aktiver. Am morgigen Dienstag sollen erneut Verhandlungen zwischen der ukrainischen und russischen Delegation stattfinden. Dies bestätigt David Arachamia, Fraktionsvorsitzender der Regierungspartei „Diener des Volkes“ und Mitglied der ukrainischen Verhandlungsdelegation gegenüber ukrai­ni­schen Medien.

In einem ersten Interview, das Präsident Wolodimir Selenski Vertretern russischer Medien gegeben hatte, steckt er den Rahmen möglicher Zugeständnisse der ukrainischen Seite ab. So sei man bereit, der Forderung nach mehr Berücksichtigung der russischen Sprache entgegenzukommen. Der russischen Seite müsse dabei aber auch klar sein, dass Respekt auf Gegenseitigkeit beruhen müsse. Wenn also die Ukraine die russische Sprache respektieren solle, erwarte man sich auch von Russland, dass es in Russland der ukrainischen Sprache entsprechenden Respekt entgegenbringe. Auch sei man bereit zu Neutralität, einem Status als Nichtatomwaffenstaat. Das sei der wichtigste Punkt. „Und so viel ich weiß“ so Selenski, „haben sie deswegen den Krieg angefangen.“

Ganz so einfach dürfte die Umsetzung dieser Zugeständnisse der Ukrai­ne an Russland nicht sein. Will die Ukrai­ne einen neutralen Status in der Verfassung verankern lassen, brauchte es dafür zwei Sitzungen des Parlaments. Und das wird sich, so Selenski, über ein Jahr hinziehen. Auch die Abhaltung eines Referendums dürfte mehrere Monate in Anspruch nehmen.

Hier stellt sich die Frage, was die russischen Truppen in der Zeit der Vorbereitung von Referendum und Parlamentssitzungen machen werden. Ein Referendum lasse sich nicht durchführen, wenn gleichzeitig Truppen eines anderen Landes im Land seien, so Selenski. „Niemand wird jemals das Ergebnis eines Referendums anerkennen, wenn es in Anwesenheit von Truppen oder illegalen bewaffneten Einheiten abgehalten worden ist.“ Der Blogger Wjatscheslaw Asarow aus Odessa schlägt vor, dass das Verfassungsgericht die Passage zum Streben nach einer Nato-Mitgliedschaft für verfassungswidrig erklären solle. Dies würde deutlich weniger Zeit beanspruchen.

Keine Einigung scheint in anderen Fragen möglich. So ist die Ukraine nicht bereit, Kompromisse in der Frage der territorialen Integrität zu machen. Und über Entnazifizierung und Demilitarisierung wolle man erst gar nicht reden, so Selenski.

Das Erfreuliche an den aktuellen Verhandlungen sei, so der ukrainische Politologe Wolodimir Fesenko, dass die russische Seite inzwischen verstanden habe, dass sie durch Verhandlungen keine Kapitulation der Ukrai­ne erreichen könne. Und so sei sie zu Kompromissen bereit. „Und das ist ein Fortschritt“, so Fesenko. Doch letztendlich hänge alles von Putin und seiner „anti­ukrainischen Paranoia“ ab. Und solange sich dessen Haltung nicht ändere, sei auch kein Fortschritt bei den Verhandlungen zu erwarten.

Wesentlich kritischer zu den Verhandlungen äußert sich die Professorin Lidia Smola im Radiosender Hromadske Radio“ Nachdem die Ukraine den Mythos einer russischen Armee, die angeblich gut kämpfen könne, vernichtet habe, wolle Russland nun die Ukraine vernichten. Und deswegen diene alles Gerede über einen Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft oder Entnazifizierung nur der Schwächung der ukrai­ni­schen Gesellschaft.Auch dürfe man nicht vergessen, dass Ver­fassungsänderungen unter Kriegsrecht nicht erlaubt seien, so Smola. Dem Wunsch Selenskis, sich mit Putin zu treffen, kann sie nichts abgewinnen.

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