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Ausgehen und rumstehen von Jan JoswigToter Mann tanzt Freejazz

Sven Åke Johansson trägt einen braunmelierten dreiteiligen Wollanzug und schöne Schuhe. Hässliche Schuhe sind nur bis zum 60. Lebensjahr ein Statement, danach eine Verwahrlosung. Sven Åke Johansson ist mittlerweile 79 Jahre alt. Auf der Freejazz-Schallplatte „Glockenbär“ von 1967 führt ihn Bandleader Manfred Schoof so ein: „Sven Åke Johansson ist ein junger schwedischer Schlagzeuger, der für diese Tonaufnahme hinzugezogen wurde.“ In der Beletage der Galerie Contemporary Fine Arts garniert Johansson 55 Jahre später die Veröffentlichung seines Schwarz-Weiß-Fotobandes „Versuch der Rekonstruktion einer vergangenen Zeit“ mit der Wiederaufführung einer Performance von 1992. An den Wänden hängen bunte Splitter aus Holz von Katja Strunz.

Der schmale Geistesmensch Johansson stellt sich für das „Telefonbuchstück“ auf eine Resonanzkiste vor zwei staksigen Notenständern (wie vom Blockflötenunterricht), auf denen jeweils die Gelben Seiten von 1990/91 Berlin (West) dramatische Kopflastigkeit provozieren. Mit mathematischer Gelassenheit beklopft Johansson die schwankenden Telefonbücher. Je nach Seitendicke schallt es pappig-trocken (wenige Seiten) bis bauchig-sonor (viele Seiten). Die Diskrepanz zwischen der lapidaren Installation und den komplexen Klangmöglichkeiten ist stupend. Aber die Musik alleine würde man auf Schallplatte nicht verstehen. Die Performance funktioniert nur als audiovisuelles Gesamtpaket. Während man den Jazzdrummer Johansson dabei beobachtet, wie er auf Altpapier einklöppelt, möchte man der ewigen Kritik am Jazz zustimmen, improvisierte Musik entstünde aus dem Moment für den Moment und verlöre ihre Nachvollziehbarkeit, wenn das singuläre Ereignis auf Schallplatte gebannt werde.

Die auratische Einzigartigkeit des Telefonbuchstücks bekam unverhoffte Unterstützung aus dem Zuschauerraum. Der einzige Besucher in Jack-Wolfskin-Jacke (souverän underdressed!) wischte mit der Schulter einen der Kunstsplitter von der Wand und platzierte ihn nur notdürftig zurück, scheel beäugt von den Umstehenden. Interieur-Zerlegung zu Trommeltusch – wenn das keine Referenz an die Nachtclub-Szene aus Jacques Tatis „Playtime“ war. In der poetischen Parabel über utopischen Hedonismus zerbröckeln mit der Innenarchitektur auch die Klassenschranken, begleitet von einem entfesselten Solo des Drummers vom Orchestre Francois Rauber.

Dank des Schulterwischers von einem anonymen Mann im Publikum tauchte das Telefonbuchstück in den Playtime-Nimbus ein. Mein Holzauge wurde wachsam. Hatte Johansson die Aufführsituation genutzt, um seiner Performance ein kulturhistorisches Upgrade zu geben? War der Jack-Wolfskin-Mann ein verdeckter Mitarbeiter Johanssons, angeheuert, um dem Publikum die Playtime-Referenz unterzuschieben? Mit größerem Gewinn hätte man das singuläre Ereignis nicht nutzen können. Höre ich in Zukunft eine Schallplatte mit Sven Åke Johansson – sei es von Manfred Schoof, Peter Brötzmann oder Alexander von Schlippenbach –, werde ich mich immer mit Jacques Tati tanzen sehen.

Nach der Anarchonacht im Playtime-Club wechseln die Gäste ins Café über die Straße, noch beseelt vom Möglichkeitsraum, den die Nacht aufgerissen hat. Nach der Performance in der Beletage von Johansson und dem Jack-Wolfskin-Mann wechsle ich ums Eck zu Ali Babas Handpizza in der Bleibtreustraße: „Viele Pepperoni – oder ganz viele?“ Die gleiche Frage seit Menschengedenken. Ich quetsche die Salzlakespritzer aus den Pepperonischläuchen und sinniere darüber nach, ob sich mir noch jemals ein anderer Möglichkeitsraum eröffnen wird, als mit einem toten Filmregisseur zu arhythmischem Kollektivlärm zu tanzen.

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