Kiewer Truppen machen noch mehr Boden gut

Angeblich sollen mindestens 27 Ortschaften zurück­erobert worden sein. Russen verlassen auch das Gelände des Atomkraftwerks in Tschernobyl

Ein zerstörter russischer Panzer in der Nähe der nordukrainischen Stadt Tschernihiw. Am Donnerstag eroberten ukrainische Streitkräfte hier einige Dörfer zurück Foto: Andrea Filigheddu/NurPhoto/imago

Von Bernhard Clasen

Ukrainische Streitkräfte haben nach eigenen Angaben über 27 Ortschaften von den russischen Besatzern befreit. Tatsächlich dürfte deren Zahl noch höher liegen als vom ukrainischen Generalstab angegeben. Die meisten dieser Ortschaften liegen in der Nähe von Kiew. Auch den Unglücksreaktor Tschernobyl haben die russischen Streitkräfte verlassen. Es wirkt geradezu bizarr, aber die russischen Truppen hatten davor sogar noch die Schichtleiter des Kraftwerkes gezwungen, ein Übergabeprotokoll des AKW Tschernobyl zu unterzeichnen. „Zwischen dem 24. Februar und 31. März 2022 haben Truppen der Nationalgarde der Russischen Föderation den zuverlässigen Schutz und die Verteidigung des AKW Tschernobyl gewährleistet. … Beschwerden vonseiten der Verwaltung des zu schützenden Objektes gegenüber den Truppen der russischen Nationalgarde liegen nicht vor“ heißt es in dem Dokument.

Einer, der sich über den unprofessionellen Umgang der russischen Streitkräfte mit dem AKW Tschernobyl beschwert, ist Jaroslaw Jemelianenko, Mitglied des gesellschaftlichen Beirates der Tschernobyl-Zone und Vorsitzender der Vereinigung der „Chernobyl Tour Operators“. „Nun geht es erst einmal darum, die Hinterlassenschaften der russischen Faschisten auf dem Territorium zu beseitigen, die radioaktiv verstrahlten Wege zu dekontaminieren, Infrastruktur und Brücken zu reparieren und die von den Russen ausgehobenen Schützengräben im hoch verstrahlten ̦Roten Wald‘ wieder zuzuschütten,“ so Jemelianenko.

Auch die Schnellstraße Kiew–Schytomyr ist wieder unter der Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte. Die ukrainischen Sender TSN und Hromadske zeigten am Freitag Bilder von ausgebrannten Autos und Leichen auf dieser Straße. Hier waren offensichtlich Zivilisten bei ihrer Flucht aus Kiew Richtung Westen von russischen Besatzern in ihren Pkws erschossen worden.

Schwieriger ist die Situation im ostukrainischen Charkiw. „Am Donnerstag haben die Russen Charkiw mit Mörsern, Artillerie und Panzern beschossen“, berichtet der Charkiwer Journalist Jurij Larin der taz. „Betroffen waren vor allem die nördlichen Bezirke – Saltowka, Pjatschatki, Schukowskij-Siedlung, Aleksejewka und im Süden das Gebiet des Charkiwer Traktorenwerks.“ Aber auch die Vororte Dergatschi, Bolschaja Danilowka und Kulynytschi seien beschossen worden. Die schwersten Kämpfe, so Larin, fänden bei Isjum statt, da die Russen dort eine Bresche Richtung Donbass schlagen wollten. Die ukrainische Armee habe die Angriffe abgewehrt.

Derweil hätten am Freitag Be­woh­ne­r:in­nen von Mariupol, Enerhodar, Berdjansk, Melitopol, Sjewjerodonezk über neun Korridore versucht, in etwas sicherere Gebiete zu gelangen, berichtete die Vize-Premierministerin Iryna Wereschtschuk in einem Briefing.

Laut Angaben des ukrainischen Generalstabes hätten bislang 7.700 russische Soldaten seit dem 24. Februar in der Ukraine ihr Leben verloren. Das Flüchtlingshilfswerk der UNO, UNHCR, meldet vier Millionen Ukrainer:innen, die seitdem das Land verlassen mussten.