crime scene
: Der Sog des Meeres bei ablaufendem Wasser

Am Wattenmeer zwischen den Niederlanden und Deutschland spielt der Roman „Der Holländer“, in dem literarische Qualität, landeskundliche Atmo und kriminalistischer Anspruch in schöner Mischung zusammenkommen. Teilweise spielt er sogar direkt im Wattenmeer, denn dort, beziehungsweise auf einer Sandbank in der Emsmündung, wird ein Toter gefunden: ein erfahrener Wattwanderer, der gemeinsam mit einem ebenso erfahrenen Freund unterwegs zur Insel Borkum gewesen ist – eine Wanderung, für die nur äußerst selten die richtigen Bedingungen herrschen. Seit Jahren hatten die drei Wattführer Klaus, Peter und Aron darauf hingefiebert, dass irgendwann die Nipptide mit den richtigen Windbedingungen zusammenfiele. Als es dann endlich so weit kommt, brechen jedoch nur zwei von ihnen zusammen auf. Und zurück kehrt nur noch einer …

Die Frage, was es mit dem Toten und mit dem nicht spannungsfreien Verhältnis zwischen den drei Wattexperten wirklich auf sich hat, macht nur einen Teil der Handlung aus. Viel erzählerische Sorgfalt widmet Mathijs Deen auch den niederländisch-deutschen Beziehungen in der Grenzregion, die an sich sehr entspannt sind, doch in die ein Offizier des niederländischen Grenzschutzes partout den Funken des Konflikts tragen will. Die Sandbank nämlich, auf der der Tote gefunden wurde, gehört teilweise zu den Niederlanden, teilweise zu Deutschland, obwohl sie sich näher am niederländischen Ufer der Ems befindet. Und obgleich es so aussieht, als hätte die Leiche auf deutschem Hoheitsgebiet gelegen, übernehmen zunächst die Niederländer die Ermittlungen, da sie es waren, die den Toten geborgen haben. Das hoheitsgebietliche Gezerre erinnert an die Ausgangssituation in der Alpenthrillerserie „Der Pass“, deren landschaftlich extremes – extrem flaches – Gegenstück Mathijs Deen hier sozusagen entwirft.

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Mathijs Deen: „Der Holländer“. Aus dem Nieder­ländischen von Andreas Ecke. mare Verlag, Hamburg 2022. 272 Seiten, 20 Euro

Zufällig verfügt die deutsche Bundespolizei See über den für einen derartigen Grenzfall genau passenden Beamten: Von seinen deutschen Kollegen „Der Holländer“ genannt, ist Liewe Cupido zweisprachig auf einer kleinen holländischen Insel aufgewachsen und den Menschen im Grenzland gewissermaßen mentalitätsverwandt, im Grunde aber vor allem sehr eigen. Beharrlich geht er denn auch eigene Wege bei der Ermittlung, die er im Prinzip inoffiziell durchführt; denn behördenseitig wird davon ausgegangen, dass der tote Wattwanderer, der Asthmatiker war, durch einen Unfall im Priel ums Leben kam. Sein überlebender Wanderfreund aber, der unter psychotischen Schüben leidet, hat im Watt seltsame Erscheinungen gehabt, bevor er den anderen aus den Augen verlor; und Liewe beschließt, den wirren Erzählungen des Überlebenden nachzugehen.

Der Überlebende hatte im Watt seltsame Erscheinungen, bevor er seinen Freund aus den Augen verlor

Von nervenzerfetzender Spannung ist dieses Buch so weit entfernt, wie es einem Kriminalroman nur möglich ist. Es hat seinen eigenen, sanften Lesesog. Gemächlich, aber unbeirrbar wie die Nordsee bei ablaufendem Wasser, zieht es die Leserin und den Leser hinaus aus der realen in eine bessere Welt, in der das Watt unendlich scheint, allein das Möwengeschrei dramatisch klingt und in der höchstens mal ein toter Wattwanderer auf einer Sandbank liegt. Ein Lesehafen für den gesunden kleinen Eskapismus zwischendurch. Katharina Granzin