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Junge Männer verzweifelt gesucht

Weil es nicht genug Zivildienstleistende gibt, bleiben Betreuung und Therapie behinderter Kinder auf der Strecke. Ein Einzelfall, heißt es aus dem Sozialressort, Erzieher behaupten das Gegenteil und sehen die Integration gefährdet

bremen taz ■ Sandro Weigang will ins Freie. Der Vierjährige steht an seiner Gehhilfe und zeigt auf den Rollstuhl, den ihm Erzieherin Angelika Sauer hinstellt. Sprechen und laufen kann Sandro nicht, eine Körperhälfte ist gelähmt – nachdem er zu früh zur Welt kam. Seit dem vergangenen Jahr besucht Sandro die Kita Kornstraße, wird von dem Zivildienstleistenden Mirko betreut. „Wir waren schwimmen“, erzählt der sechsjährige Sabri, der mit Sandro in eine Gruppe geht. Zuerst habe der sich nicht getraut, aber Mirko habe ihm geholfen. „Dann ging’s.“

Damit ist es jetzt vorbei. Mirkos Zivildienst ist beendet, Sandros Mutter muss ihren Sohn selbst zur Kita bringen und früher abholen. Mirko fehlt überall. In der Hasengruppe, die Sandro mit vier anderen behinderten Kindern besucht, hat er das Kind versorgt, umgehoben, gefüttert und so betreut, dass er mit den anderen klar kam. „Da brauchten wir kein Auge drauf zu haben“, sagt Erzieherin Angelika Sauer. Nun müsse sie jede Minute, die sie mit Sandro verbringe darauf vertrauen, dass ihre Kollegin alle anderen Kinder im Blick habe. „Unmöglich“ sei das. Heilpädagogik und Bewegungsübungen gingen gen Null. Dabei hat Sandro einen Rechtsanspruch auf „Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“, wie es im Sozialgesetzbuch heißt. „In der Regel wird dies mit einer persönlichen Assistenz durch einen Zivi geregelt“, sagt Marco Haar von der Lebenshilfe.

In den Kitas sei Zivi-Mangel kein Einzelfall, sagt die Leiterin, überall höre sie davon. Jedes Jahr stünden Vakanzen an, weil Zivis nur neun Monate bleiben könnten, ein Kitajahr aber zwölf dauere. In der Überbrückung sei es schwer, die Kinder gut zu integrieren, meint Kita-Leiterin Jutta Mau. Man nähere sich wieder den alten Sondergruppen.

„Es darf nicht sein, dass behinderte Kinder nach Hause geschickt werden, weil nicht genug Personal vorhanden ist“, meint Staatsrat Arnold Knigge aus dem Sozialressort. Es gebe zwar logistische Problem bei der Verteilung und Anwerbung von Zivis. Die Vakanzen müssten die Kitas mit den Trägern im Einzelfall lösen, zusätzliche Mittel gebe es dafür nicht. Die Kita in der Kornstraße habe ein „Einzelproblem“, so Knigge.

Sandro weiß nichts davon. Er hat gerade sein Mittagessen verspeist, genau wie seine Spielkameraden Sabri und Arber. Die beiden gehen jetzt selber kochen, in der Spielküche. Und Sandro? Der muss in seinem Rollstuhl sitzen bleiben und gleich nach Haus. kay müller

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