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Wenn man im Späti viel zu höflich geothert wird

Berlin-Neukölln 328.000 Einwohner. Hier finden sich gefühlt mindestens 350 der insgesamt etwa 1.000 Berliner Spätis. Wer im Späti gesiezt wird, ist entweder vom Ordnungsamt oder sonst wie aus einer anderen Welt.

Es herrscht offenbar ziemlich dicke Luft in meinem Neuköllner Späti am frühen Sonntagabend. Während draußen die Sonne den Himmel in übertriebenes Rosa taucht, höre ich beim Eintreten, wie die Frau vor dem Verkaufstresen den Spätibesitzer wütend anfaucht: „Jetzt komm mir bloß nicht so!“

Er scheint etwas kleinlaut: „Hab dich nicht erkannt“, höre ich ihn murmeln, und „lange nicht gesehen …“ – offenbar braucht die erboste Kundin die kleine Flasche Wein, die vor ihr auf der Theke steht, nur in emotionalen Ausnahmesituationen. „Das fehlte mir gerade noch …“, setzt sie noch einmal kurz, aber schon etwas ermattet nach.

Als sich dann noch herausstellt, dass ihr 20 Cent fehlen, um den Wein bar zu bezahlen, gibt der Spätimann ihrer Wut den Todesstoß: „Kein Problem“, versichert er: „Machste nächstes Mal, bist doch Stammkundin!“ Die Frau packt den Wein in ihren Rucksack und scheint beruhigt. Als sie sich umdreht und ich sie erstmals von vorne sehe, glänzt ein ähnliches Rosa auf ihrem Gesicht wie draußen am Abendhimmel.

„Was war denn los?“, frage ich den Spätibesitzer. „Ach Mensch, ich hab sie nicht erkannt, als sie reinkam, und hab sie gesiezt“, sagt der beschämt. Alke Wierth