: Schwieriger Partner
Über die frühen Lebensjahre Rudolf Steiners (1861–1925) lässt sich jetzt Neues melden, in puncto Arbeit sowie in der Liebe
Von Wolfgang Müller
Es muss ein Kulturschock gewesen sein, als der 23-jährige Rudolf Steiner in das eindrucksvolle Stadthaus der Familie Specht in Wien kam. Er selbst kannte es anders: Die Steiners lebten zu fünft in zwei Zimmern. Man hatte ihn Pauline Specht als Hauslehrer empfohlen, als „Hofmeister“, wie es damals hieß. Eigentlich steckte Steiner damals schon in einer anderen Aufgabe, als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, aber das war zu schlecht bezahlt.
Die Spechts hatten vier Jungs, von denen der zweite, Otto, größte Sorgen machte. Er war geistig kaum aufnahmefähig, der Hausarzt sah keine Hoffnung. Mit eigentümlichem Selbstbewusstsein bat der junge Steiner, man möge ihm für drei Jahre „den Buben lassen“, er werde schauen, was sich tun lässt. Fast alle rieten ab, aber Pauline vertraute ihm und setzte sich durch. „Ich musste den Zugang zu einer Seele finden, die sich zunächst wie in einem schlafähnlichen Zustande befand“, so Steiner später. „Man hatte gewissermaßen die Seele erst in den Körper einzuschalten.“ Offenbar mit Erfolg. Der Junge machte nach dem Ende von Steiners sechsjähriger Erziehertätigkeit ein sehr gutes Abitur und wurde Arzt. Hier lag wohl die Keimzelle zu dem, was heute die anthroposophische Heilpädagogik ist. Otto Specht starb später im Ersten Weltkrieg, er infizierte sich als Arzt in einem Lazarett mit Typhus.
In einem Buch beschreibt jetzt die Steiner-Biografin Martina Maria Sam nicht nur dieses Schicksal, sie leuchtet zugleich am Beispiel der Spechts die Geschichte einer jüdischen Familie in jener Zeit aus: osteuropäische Herkunft, dann Aufstieg in der Großstadt, Ladislaus Specht war Baumwollimporteur, liberales Bürgertum, manche traten zum Christentum über, was den Nazis später bekanntlich gleichgültig war: Einige Mitglieder der Großfamilie wurden im Holocaust ermordet, andere konnten fliehen. Forscherin Sam recherchierte ihre Spuren bis nach Australien.
Neue Blicke wirft sie auch auf Steiner selbst, der noch ein Stück vom Meisterstatus entfernt war. Vom ständigen „Zappeln seiner gekreuzten Beine“ berichteten später seine Zöglinge, zugleich habe man „etwas unerhört Willensstarkes“ gespürt. Und er galt wohl, wie er selbst einmal schreibt, „als der schlampigste Mensch“ überhaupt. Am meisten beschäftigten Steiner zu dieser Zeit philosophische Fragen. Schon damals entstand der Kern seiner Erkenntnistheorie, nach der tiefere Erkenntnis zunächst einmal eine innere Entwicklung des erkennenden Menschen voraussetzt. Anderes kam da wohl kürzer. In seinem Lebensrückblick berichtet er immerhin von der zarten Liebe zwischen der Schwester eines Freundes und ihm, die aber nur „zwischen den Worten“ gelebt habe, nie explizit wurde. Anders muss dies wenig später gewesen sein. Offenbar war er mit Ende zwanzig einmal verlobt – eine Episode, die erstmals in Sams Buch dokumentiert wird. Die junge Frau, Friederike Weiß, lebte in Siebenbürgen, zu Weihnachten 1889 reiste er dorthin und hielt dort sogar einen Vortrag.
Er muss ein schwieriger Partner gewesen sein, der, zurück in Wien, wieder nur seine Philosophie im Kopf hatte und nur selten von sich hören ließ. Ein gemeinsamer Freund, der die Leiden der Geliebten aus der Nähe erlebte, beschwor ihn in Briefen: „Glaube mir, die 8 Tage, die Du in Hermannstadt warst, haben wir schon mit 8 Monaten des Leides schwer erkauft.“ Manchmal setzte Friederike etwas hinzu: „Liebster“, schrieb sie, „lasse wieder einmal Dein großes, so reiches Herz sprechen“, und endet: „Es küsst Dich tausendmal Deine Fritzi.“
Weil Steiners Briefe nicht erhalten sind, lässt sich das Ende der Beziehung – er schrieb wohl einen Abschiedsbrief – nicht mehr klar rekonstruieren. Denkbar sind pragmatische Gründe: Steiner konnte nach damaligen Maßstäben keine Familie gründen. Er war ein unterbezahlter, von befristeten Aufträgen lebender, modern gesagt: prekär beschäftigter Akademiker. Aber vielleicht waren innere Gründe noch stärker. Steiner gehörte fraglos zu jener besonderen Sorte Mensch, die eine große Aufgabe in sich spüren und Zweifel haben, ob sich dies mit einer Familienverantwortung vereinbaren lässt.
Besser ist naturgemäß Steiners publizistische Arbeit jener Jahre überliefert. Er schrieb politische Feuilletons und kulturgeschichtliche Betrachtungen – teilweise mit scharfen antiklerikalen Tönen. „Alle Offenbarungsreligionen“, so der Freigeist, hätten „abgewirtschaftet“. In diesen Kontext gehören auch jene Sätze des 27-Jährigen, in denen er dem Judentum bescheinigt, es habe sich „längst ausgelebt“ – dies wird von Steiner-Kritikern bis heute zitiert, um ihn als Antisemiten hinzustellen. Tatsächlich empfand sein Arbeitgeber Ladislaus Specht, wie Steiner berichtet, „tiefen Schmerz“, als er dies las.
Die enge Verbindung aber blieb, auch als Steiner 1890 nach Weimar zog. Steiner habe, schrieb ihm Specht, „ein großes Guthaben in meinem Hauptbuche“. Man könne doch jetzt „ein neues Folio unter dem Titel ‚wahre Freundschaft‘ eröffnen. Einverstanden?“ Die Freundschaft blieb ein Leben lang.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen