: Polizeigewalt: möglichst anonym
Polizeibeamte sollen endlich Namensschilder oder Nummern tragen, damit sie nach Übergriffen etwa bei Demonstrationen schneller identifizierbar sind. Das fordern Bürgerrechtler. Aber das Beharrungsvermögen ist groß. Die Polizeigewerkschaften bremsen die Politik aus. In Baden-Württemberg hat die rot-grüne Koalition zwar vor einem Jahr eine „individualisierte anonymisierte“ Kennzeichnung vereinbart. Keiner weiß jedoch, wann sie umgesetzt wird
von Wilfried Voigt (Text) und Chris Grodotzki (Fotos)
Eine schnell ausholende Bewegung mit der rechten Hand – und ratsch!, das weiße Papier ist fast durchtrennt. Bodo Pfalzgraf, Vorsitzender des Berliner Landesbezirks der Deutschen Polizeigewerkschaft, hält das Blatt mit der linken Hand triumphierend hoch. Wie ein Staatsanwalt in einem amerikanischen Justizthriller präsentiert er Beweismittel Nummer eins. Dann wendet sich der Funktionär einem neben ihm auf dem Tisch liegenden gekochten Eisbein zu und bereitet das Publikum auf Beweismittel Nummer zwei vor: „Wir brauchen gar nicht mehr Messer und Gabel. Wenn wir ein Eisbein essen wollen, dann reicht unser Namensschild.“ Kraftvoll zieht Pfalzgraf eine kleine schwarze Karte über die Längsseite des Schweineteils – ein klarer Schnitt. Jetzt folgt der dramaturgische Höhepunkt der Inszenierung: „Wenn das die Halsschlagader trifft – bis der Notarzt da ist, denke ich, ist der Kollege ausgeblutet.“ Diese Schilder seien „lebensgefährlicher Murks“.
Lobbyarbeit für den Korpsgeist
Die kleine Horrorshow des Gewerkschaftsfunktionärs im Herbst letzten Jahres in Berlin war eine politische Aktion – gegen die noch vom rot-roten Senat durchgesetzte Kennzeichnung von Polizeibeamten mit Namensschildern. Die schlechte technische Ausführung war nur der äußere Anlass für die öffentlich zelebrierte Missbilligung. Thomas Wüppesahl von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizisten monierte denn auch: „Das ist Lobbyarbeit für den Korpsgeist.“
Gegner der Personalisierung finden sich nicht nur in den Reihen der eher konservativen Deutschen Polizeigewerkschaft (rund 80.000 Mitglieder). Auch viele Kollegen in der etwa 170.000 Mitglieder starken liberaleren Gewerkschaft der Polizei (GdP) mögen es nicht, wenn sie leicht namhaft gemacht werden können. Noch im Februar 2012 erregte sich ein GdP-Vertreter in einem Schreiben an die SPD in Sachsen-Anhalt, es sei „eine Tatsache, dass schon heute einzelne Beamte persönlich ausgeforscht, ihr Name und ihre Privatanschrift ermittelt und in der politisch extremen Szene veröffentlicht werden“. Bei den Forderungen nach einer Kennzeichnungspflicht bleibe zudem „die negative Auswirkung der Maßnahme auf die Motivation der eingesetzten Beamten“ unbeachtet – insbesondere derjenigen in „geschlossenen Einheiten“. Eine zusätzliche Kennzeichnung sei „für die Aufklärung von polizeilichen Übergriffen nicht notwendig“. Das freiwillige Tragen von Namensschildern, das Zücken von Dienstausweisen oder „die Aushändigung von Visitenkarten“ sei „völlig ausreichend“. Die Kennzeichnung, echauffierte sich der Gewerkschaftsfunktionär, symbolisiere „Misstrauen und wirkt insoweit diskriminierend“.
Bis heute müssen nur in der Bundeshauptstadt uniformierte Gesetzeshüter ihre Identität preisgeben. Allerdings haben sie dort die Wahl: Namensschild – in der von Bodo Pfalzgraf angeprangerten Form – oder Nummer. Die Mehrheit der bei Demos und Großveranstaltungen eingesetzten Beamten entscheidet sich nach Einschätzung von Gerd Naß, Berliner Landesgeschäftsführer der Deutschen Polizeigewerkschaft, eher für die anonymere Zahlenvariante.
Rot-Grün nimmt Rücksicht auf die Polizei
In Rheinland-Pfalz wurde die Kennzeichnung vor einem Jahr zwar als Vereinbarung in den rot-grünen Koalitionsvertrag geschrieben – umgesetzt ist sie noch nicht. Die Interessenvertreter der Beamten machen sich auch in Mainz für die Wahlmöglichkeit stark. Die Polizisten hätten es gern möglichst anonym. Im Ländle haben Grüne und Sozialdemokraten darauf Rücksicht genommen. Im Koalitionsvertrag („Der Wechsel beginnt“) heißt es auf Seite 66 lapidar: „Wir werden eine individualisierte anonymisierte Kennzeichnung der Polizei bei sogenannten ,Großlagen‘ einführen, unter strikter Wahrung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung der Polizistinnen und Polizisten.“ Wann die Zusage realisiert wird, ist offen.
Der Stuttgarter Rechtsanwalt Walter Törmer hält die Umsetzung für überfällig, insbesondere angesichts der Übergriffe anonymer Beamter bei Demonstrationen gegen den Bau des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofes. Der Jurist vertritt zwei Demonstranten, die nach massiven Attacken der Polizei am 30. September 2010 Strafanzeige gegen unbekannt erstattet hatten. Die Beamten waren bei dieser Demo, in Stuttgart als Schwarzer Donnerstag in zorniger Erinnerung, wegen ihrer Einheitskluft nicht auseinanderzuhalten.
2.955 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte 2009
Selbst der ehemalige Rektor der Polizeihochschule Baden- Württemberg, Professor Thomas Feltes, kritisierte den Einsatz als Strategie, „die von Anfang an auf Konfrontation, durchaus auch auf Gewalt, angelegt gewesen ist“. Immerhin 136 Strafverfahren gegen Beamte wurden wegen der Übergriffe an diesem Tag eingeleitet. Wie viele dieser Fälle noch offen sind, kann die Stuttgarter Staatsanwaltschaft im Juni 2012 mangels aktueller Statistiken nicht beziffern. Laut Pressesprecherin Claudia Kraut waren es Mitte September letzten Jahres immerhin noch 97. Laut Amnesty International liefen allein im Jahr 2009 2.955 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte, 221 davon in Baden-Württemberg. Im Internet bietet Amnesty ein Opfer-Merkblatt an.
Über das Thema Namens- oder Nummernschilder für Polizisten wird seit Jahren heftig gestritten. Aus Sicht von Bürgerrechtsorganisationen wie Amnesty oder der Humanistischen Union ist die Berliner Regelung zwar ein Fortschritt, aber eben nur ein Anfang. Noch wichtiger sei eine „unabhängige Kontrollinstanz zur Untersuchung von Polizeigewalt“. Fünf Bürgerrechtsorganisationen haben sich deshalb zusammengeschlossen und Ende Mai einen Kriterienkatalog dafür veröffentlicht. Zu dem Bund gehören Amnesty International, die Humanistische Union, die Internationale Liga für Menschenrechte, das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. und der Republikanische Anwaltsverein. Das Quintett hält derartige Kontrollen für notwendig, „um zumindest partiell eine Kontrolle polizeilichen Handelns von außen zu gewährleisten“. Gerade bei einem „gewaltsamen Polizeieinsatz“ wie der Demonstration am 30. September 2010.
Die unabhängige Kontrollinstanz sollte aus Sicht ihrer Befürworter „ausschließlich für Fälle von mutmaßlich rechtswidriger Gewalt sowie anderer schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen zuständig sein, die von Polizei- oder Zollbediensteten ausgeübt wurden“. Sonstiges rechtswidriges staatliches Handeln soll dagegen „nicht zum Aufgabengebiet der Kommission gehören“. Die Mitglieder der Kommission müssten „aus der Zivilgesellschaft“ kommen und „nicht an die Exekutive angebunden sein“. Zudem sollte die neue Organisation über „eigene Untersuchungsbefugnisse verfügen“. Dazu gehören aus Sicht der Verfasser die „sofortige Sichtung des Tatortes, die Befragung von Zeugen und Beschuldigten sowie die Akteneinsicht, insbesondere in polizeiliche Vorgänge und staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten“. Den Mitgliedern müsse erlaubt sein, „Polizeidienststellen auch unangemeldet zu betreten“.
Nach Erkenntnissen von Norbert Pütter, Privatdozent für politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin, hinkt Deutschland „in Fragen der Polizeikontrolle deutlich hinter vergleichbaren Staaten her“. In anderen Ländern gebe es eine „reiche Fülle an Institutionen und Verfahren, die für eine unabhängige Polizeikontrolle in der Bundesrepublik Pate stehen könnten“. Pütter: „Es mangelt nicht an Vorbildern und Ideen, sondern am Willen der politischen und polizeilichen Führung.“ In Frankreich etwa müssen Polizisten eine Identifikationskarte mit Foto sichtbar an der Uniform tragen.
Auch der Menschenrechtskommissar des Europarates forderte die Einrichtung unabhängiger Untersuchungsinstanzen. Aber nichts passierte konkret. Als im April letzten Jahres im Bundestag ein Antrag der Linken zur Beratung anstand, eine polizeiunabhängige Beschwerdestelle beim Bund einzurichten, wurde keine Rede gehalten. Alle fünf Fraktionen gaben ihre Beiträge nur „zu Protokoll“. Während Linke und Grüne für das Projekt plädierten, lehnten CDU/CSU, SPD und FDP ab (Bundestagsdrucksache 16/12683).
Pütter warnt jedoch vor zu hohen Erwartungen. Er hält die externe Kontrolle der Polizei zwar für „nötig“ und ihr Fehlen in Deutschland sei „Ausdruck eines deutlichen demokratischen Defizits“. Dennoch dürfe man „die Potenziale einer optimierten Kontrolle nicht überschätzen“. Pütter: „Auch die extern kontrollierte Polizei realisiert das Gewaltmonopol, sie sichert keine abstrakte rechtliche Ordnung, sondern bestehende gesellschaftliche Zustände. Eine kontrollierte ist noch keine demokratisierte Polizei.“
Unwilligen Polizeigewerkschaftern wie dem Berliner Eisbein-Schlitzer Bodo Pfalzgraf riet ein Blogger namens Robert lakonisch: „Dann empfehle ich für die Herren Vollstreckungsbeamten auch Wachsmalstifte und Kreide anstatt der gefährlichen Kugelschreiber, die bisher im Umlauf sind.“
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