Schließt den Himmel!

Wie sich Wladimir Putin brutal an den widerständigen Einwohnern Mariupols rächt

Aus Mariupol Anna Murlykina

Während der ersten zwei bis drei Tage versucht Putins Armee die Verteidigungslinie Mariupols mit aller Kraft zu durchbrechen – erfolglos. Die Stadt leistet Widerstand. Die russische Armee zerstört unsere Infrastruktur (Strom- und Wasserleitungen), aber wir setzen sie wieder instand. Die Truppen rücken vor, aber unsere werfen sie zurück. Die Stadt lebt, trotz der Zerstörungen. Öffentliche Verkehrsmittel funktionieren, Geschäfte werden beliefert. Aber es scheint, dass die russischen Truppen entschlossen sind: Mariupol unter massiven Artelleriebeschuss zu nehmen und die Stadt von der Erdoberfläche zu fegen.

In den vergangenen vier Tagen hat Putin mit Grad-Raketen, Tornados und Marschflugkörpern einen Bombenteppich auf die Stadt niedergehen lassen. Die Situation ist grauenhaft. Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die in Mariupol geblieben sind und unter Beschuss versuchen, die Strom-, Kommunikations- und Wasserversorgung wiederherzustellen, sind physisch nicht mehr in der Lage, die Toten zu zählen. Die Anzahl von Verletzten wird nur anhand von Listen derer erfasst, die es ins Krankenhaus geschafft haben.

Die Ärzte in Mariupol gehen nicht mehr nach Hause. Sie arbeiten rund um die Uhr und schlafen zwei bis drei Stunden auf der Arbeit. Hebammen entbinden Frauen in Kellern. Das ist die Realität, in der die Stadt schon sieben endlos lange Tage überlebt.

Das ist Aleppo. Eine Stadt unter vollständiger Blockade. Zivilisten haben nicht einmal mehr die kleinste Chance auf eine Evakuierung. Die russischen Truppen haben die Schienen am Bahnhof und Diesellokomotiven gesprengt. Laut des Diktators Putin soll niemand überleben. Niemand soll diese Stadt verlassen, die sich in ein wahrhaftiges Stalingrad verwandelt hat.

Am Mittwoch haben Priester der Ukrainisch Orthodoxen Kirche einen Konvoi mit humanitären Hilfsgütern beladen und konnten ihn nicht in die Stadt bringen. Der Geschäftsmann Rinat Achmetow hat einen Hilfskonvoi organisiert, doch auch der kommt nicht an. Alles Gerede des Aggressors über „grüne Korridore“ sind nichts als Lügen. Der Beschuss verstummt nicht einmal auch nur eine Minute. Das ist der Genozid, über den Putins Propagandisten in den vergangenen acht Jahren geredet haben.

Doch die Stadt gibt nicht auf. Die Menschen in Mariupol organisieren sich und backen Brot. Sie verteilen Trinkwasser. Sie versuchen, Menschen aus den Epizentren der Angriffe zu evakuieren. Das Problem jedoch ist, dass die Fläche unter Beschuss mit jedem Tag größer wird. Heute gibt es in ­Mariupol kein einziges Fleckchen mehr, das die Granaten nicht erreichen.

Warum ist es für Putin so wichtig, Mariupol zu erobern? Es gibt mehrere Gründe. Er will einen Landkorridor zur Krim schaffen. Und da ist Mariupol im Weg. In der Stadt konzentriert sich erhebliches industrielles Potenzial. Und dann ist da noch ein psychologisches Moment. 2014 hat sich Putin an unserer Stadt die Zähne ausgebissen. Der Zusammenhalt von Bewohnern, Armee und Wirtschaft konnte den Vormarsch des Feindes aufhalten. Offensichtlich hegt Putin immer noch einen Groll, für den die Einwohner dieser Stadt heute bezahlen.

Putin stürzt Mariupol absichtlich in eine humanitäre Katastrophe. Noch kann er gestoppt werden, mit Flugverbotszonen. Dafür braucht man keine Nato-Truppen. Am Boden können wir selbst die Horden aufhalten. Aber der Himmel, er muss „geschlossen“ werden. Es geht um die Zukunft Europas.

gesellschaft 28–30 und auf taz.de