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Vom Standpunkt der Katastrophe

Die „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer ist ein Jahrhundertbuch. Martin Mittelmeier untersucht mit „Freiheit und Finsternis“ dessen Genesis und Geltung

Von Jörg Später

Äußerlich betrachtet ist die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ein Klassiker. Es ist das nachhaltigste Werk aus dem Zusammenhang der Frankfurter Sozialphilosophie, die während des Nationalsozialismus Zuflucht in New York und Los Angeles gefunden hatte. Das Buch ist zeitlich so weit entfernt von heute wie es selbst zum Zeitpunkt seines Entstehens von Karl Marx’ „Das Kapital“. Es entstand im Schatten von Auschwitz. Die Vernichtung der Juden in Europa wird zwar nirgendwo direkt benannt, doch ist sie überall gegenwärtig. Die Autoren nahmen sie als historische Zäsur wahr, nach der nichts mehr so ist wie zuvor, inklusive das eigene Denken. Die „philosophischen Fragmente“ – wie der folgerichtige Untertitel lautet – sind ein Jahrhundertbuch geworden, dessen Genesis und Geltung Martin Mittelmeier zu rekonstruieren verspricht.

Innerlich betrachtet ist die „Dialektik der Aufklärung“ eine sonderbare Schrift. Das liegt nicht nur am Fragmentarischen. Vielmehr ist das Leseerlebnis von Zwiespalt geprägt: Dieses Buch ist schwer zu fassen – man versuche nur mal in dem Kapitel „Begriff der Aufklärung“ die wichtigsten Stellen zu unterstreichen oder es in Abschnitte einzuteilen. Und doch hat jeder Satz eine ungeheure Sogkraft, eine ästhetische Wirkung. Die Autoren bauen keine Argumentation auf, sondern variieren die immer gleiche These: dass bereits der Mythos Aufklärung ist und Aufklärung in Mythologie zurückschlägt. Die Sätze sind apodiktisch, und doch entsteht der Eindruck hoher Plausibilität. Die geschichtsphilosophische Erzählung ist maßlos in ihrer Reichweite, aber es gibt darin kein unnützes Wort. Mittelmeier fragt sich, warum das so ist.

Seine äußerliche historische Rekons­truk­tion erfolgt im Plauderton. Kritische Theorie zu erzählen, ist gewagt, muss aber nicht zwangsläufig scheitern, solange der Interpret nicht lax wird. Das ist dem Autor keinesfalls vorzuwerfen, aber doch übertreibt er es mit der Annekdoterei, den Montagen, Sprüngen und Spekulationen. Immer dann, wenn das Tempus vom gediegenen Präteritum ins aufdringliche Präsens wechselt, wird es Spiegel-like. Manche Überschriften sind wie Warnschilder für Actionphilosophie: „Philosophen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, „Angst essen Aufklärung auf“, „Am Grauen vorbei­defilieren“. Andere erzeugen schlicht Stirnfalten: „Kreuzchen mit Gummistempel“, „Gib’s auf! Halte stand!“, „Atome atomisiert“.

Die Reise ins Innere der „Dialektik der Aufklärung“ birgt hingegen erstaunliche Einsichten. Mittelmeier glänzt im Dechiffrieren der Rätselhaftigkeit dieser Schrift. So ist ihm aufgefallen, dass jeder, der versucht, einem interessierten Mitmenschen die Gedanken des Buches zu vermitteln, feststellt, wie schnell man ins bloße Nachbeten kommt und wie dürftig die Argumentation ist, obwohl man von dem Gefühl völliger Schlüssigkeit durchdrungen ist. Das liege an der Inszenierung, sagt Mittelmeier, der überdies nicht bloß behauptet, dass ­Adorno seine Texte durchkomponiert hat wie Musikstücke, sondern es auch aufzeigt: In jedem einzelnen Abschnitt des Essays über den Begriff der Aufklärung zum Beispiel sei das dialektische Bild von der Verschränktheit von Mythos und Aufklärung präsent und in der Mitte zentriert. Solches Close Reading legt nahe, den Klassiker nicht zu lesen wie andere Texte, sondern ihn zu begehen wie einer Installation, in der alles gleichzeitig zu sehen ist. Die Kraft dieses Jahrhundertbuchs beruht demnach auf der Performance eines dialektischen Bildes, also auf der Form.

Auf der interpretatorischen Ebene sind zwei von Mittelmeiers Thesen strittig. Zum einen die durchaus gängige, dass diese tiefschwarze Schrift eine Abkehr von der Gesellschaftskritik à la Marx bedeutete – hin zu einer Urgeschichte und Genealogie der Gewalt. Gewiss, eine geschichtsphilosophische Konstruktion, die einen Urfehler in der Menschheitsgeschichte sucht, bewegt sich auf einem anderen Boden als die Kritik der politischen Ökonomie. Diese muss damit aber nicht hinfällig geworden sein.

Auch wenn die „Dialektik der Aufklärung“ der Versuch ist, den „Zivilisationsbruch“ von Auschwitz philosophisch zu erfassen, und das Marx’sche Besteck dafür als nicht ausreichend erachtet, sind deren Autoren doch weiter mit der materialistischen Gesellschaftskritik verbunden. Die „Dialektik der Aufklärung“ sollte die Urgeschichte der kapitalistischen Gesellschaft sein, aus der die Nazi-Barbarei entwachsen sei, die aber wiederum nicht mehr mit einer Kritik des Kapitalismus zu fassen ist. Kein Abschied von Marx also, aber eine neue Perspektive auf die Gattungsgeschichte vom Standpunkt der Katastrophe aus.

Manche Überschriften in „Freiheit und Finsternis“ von Martin Mittelmeier wirken wie Warnschilder für Actionphilosophie

Zum anderen ist Mittelmeiers Idee verwunderlich, der Holocaust sei in ­Ador­nos angeblicher Erlösungsphilosophie wie eine Kippfigur zwischen Himmel und Hölle eingegangen. Die Leichenberge als letzte Etappe vor dem Übergang in eine menschliche Gesellschaft? Nein, eine solche Dialektik von Hölle und Himmel gibt es bei Adorno nicht!

Mittelmeiers großes Verdienst liegt darin, die „Dialektik der Aufklärung“ als ein Sprachkunstwerk auszuweisen und ihre Komposition zu dechiffrieren. Über die Genesis des Buches erfahren wir manch Überraschendes, doch wirken die Geschichten rund um das Buch oft allzu konstruiert. Über die historischen Gründe der Geltung des Klassikers, der ja erst 20 Jahre später zu einem wurde, erfahren wir wenig.

Eine „Sternstunde der Philosophie“, wie der Siedler Verlag angibt, ist Mittelmeiers „Freiheit und Finsternis“ eher nicht. Aber es besticht mit manch klugen Einsichten.

Martin Mittelmeier: „Freiheit und Finsternis. Wie die ‚Dialektik der Auf­klärung‘ zum Jahrhundertbuch wurde“. Siedler Verlag, München 2021, 321 Seiten, 24 Euro

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