Ausgehen und rumstehen von Stephanie Grimm
: Kakofonisch und undurchschaubar schön

Kaum kündigt sich der Frühling an – oder zumindest ein blitzblauer Himmel –, schleicht auch die erste Erkältung seit fast zweieinhalb Jahren um die Ecke. Na toll. Da traue ich mich zum ersten Mal ohne Maske unter viele Menschen – und zwei Tage später der Hals zu. Am nächsten Tag dann eine Schnupfenlawine. Na ja, bei so einem richtigen Konzert des tollen Caribou gewesen zu sein, war’s das wohl wert.

Vermutlich trägt selbst an der Rotzerei dieser Drecksack Putin Schuld. Hätte ich an den Tagen davor nicht zu viel Zeit mit schlechten Nachrichten verbracht und darüber auch noch schlecht geschlafen, hätten die Viren, wie sie ja zwangsläufig durch einen Raum wie die Columbiahalle schwirren, vielleicht keine Chance gehabt.

Egal, immerhin bleiben die Coronatests negativ, und vielleicht lässt sich ja die übliche Erkältungsdramaturgie abkürzen. Etwa, indem ich mich in die Mittagssonne in den Gleisdreieck-Park setze, zusammen mit all den anderen, die ihre winterfahlen Gesichter, wie Eidechsen, dem lang vermissten Licht entgegenrecken.

Offenbar hilft’s. Am Freitag ist der Zustand wieder so weit hergestellt, dass zumindest ein Besuch im Radialsystem drin ist, bevor die Konzertinstallation „Myriad II“ wieder vorbei ist. Dieses Kunstwerk besteht aus 2.464 Spieluhren, die in eine doppelseitige, von innen beleuchtete Wand eingebaut sind. Bei aller optischen Strenge der Installationen: Die Spieluhren singen alle ihr eigenes Liedchen. Oder zumindest insgesamt 54 verschiedene. So viele verschiedene Melodien wurden hier offenkundig verbaut – schön symmetrisch angeordnet. Doch das dahinterstehende Muster erschließt sich natürlich dem erstmaligen Besucher nicht, weswegen das Ganze schön kakofonisch und undurchschaubar daherkommt.

Entworfen wurde die wuchtige Wand von der Komponistin Rebecca Saunders und dem Landschaftsarchitekten Martin Rein-Cano. Im Radialsystem zu erleben ist sie nun entweder als Klanginstallation, bei der sich das Publikum interaktiv mit den vielen Spieluhren vergnügen kann, indem es beliebig viele davon in beliebiger Reihenfolge aufzieht und lauscht, was entsteht. Oder als sogenannte Konzertante Collage, bei der zudem Stücke der in Berlin lebenden Britin von sechs Musikern aufgeführt werden; die Wand mit den Spieluhren darf natürlich trotzdem dazwischenfunken.

Die Spieluhren werden zwischendurch immer wieder von den Musikern selbst aufgezogen. Das schafft einen kurzweiligen Kontrast, zwischen den eher abstrakten Klängen, die die sechs Musiker auf ihren Instrumenten erzeugen, und den gefälligen Melodiechen. Dann erinnern sich immer mehr Besucher*innen, dass sie bei einer interaktiven Veranstaltung sind. Also selbst was tun dürfen. Wie sie sich dann, je­de:r auf seine/ihre Weise, der Installation nähern, hat fast so viel Unterhaltungswert wie die Installation selbst. Manche erst zögerlich, dann zunehmend forsch. Andere wollen das System erkennen und studieren interessiert das Innenleben zwischen den zwei Wandseiten, als erschließe sich so, welcher Klang wo rauskommt. Ein griesgrämig guckende Frau bleibt stur bis fast zum Schluss auf ihrem Hocker sitzen und guckt eher leicht verächtlich auf den allseits erwachenden Spieltrieb der anderen, um dann plötzlich aufzuspringen, ganz schnell ganz viele der Spieluhren aufzuziehen und fluchtartig den Raum zu verlassen.

Der Rest der Erkältung wird dann bei einem sonnigen Samstagsspaziergang ausgetrieben, Glühwein hilft beim Ausschwitzen. Jagen 37 heißt die Halbinsel bei Schmöckwitz, auf deren schönem Uferweg uns kaum jemand begegnet. Nur das Wasser, das hier überall um einen rumschwappt, muss noch ein bisschen wärmer werden.