berliner szenen: Vor Krieg und Terror fliehen
Es ist Samstag, meine Tochter und ich waren einkaufen und haben mit unseren schweren Taschen lange auf die S-Bahn gewartet. Als die Bahn endlich kommt, lassen wir uns in einen Vierersitz fallen und warten, bis die Bahn abfährt, es dauert ewig. Wir sind müde und irgendwie nervt es, immer mit der S-Bahn fahren zu müssen, die ständig zu spät kommt oder Ersatzverkehr hat.
In den Sitzen neben uns wirken die Leute auch müde. Vor allem ein kleines Mädchen mit einer Mütze und einem langen Zopf, das eine Brötchentüte in der Hand hält und mit großen Augen vor sich hin starrt. Der Mann unterhält sich mit der Mutter der Kleinen auf Englisch über die Natur. Sie zeigt ihm Fotos auf einem großen Handy und sagt: „It’s very beautiful.“ Er nickt, fährt sich durch das Haar, sein Blick ist traurig. Er trägt eine neongelbe Weste mit einem Klebestreifen, auf dem sein Name steht. Meine Tochter und ich gucken uns an und plötzlich ist uns klar, dass der Mann die Frau und ihre Tochter vom Bahnhof abgeholt hat und die beiden aus der Ukraine geflüchtet sind.
„I can make a risotto“, sagt er jetzt. Sie nickt. Das Mädchen fragt etwas auf Ukrainisch und die Mutter antwortet, ohne den Blick von ihrem Handy zu lösen. Der Mann fragt, ob sie Tee oder Kaffee trinkt und ob die Kleine Milch möchte oder etwas anderes. Die Frau sagt: „It’s fine, thank you. It’s fine.“
Als meine Tochter und ich aussteigen, sind wir still. „Da meckert man eben noch über die Wartezeiten der S-Bahn und dann sitzen da Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen mussten, durch mehrere Länder gekommen sind und vielleicht für immer alles verloren haben“, sagt meine Tochter.
Ich drücke ihre Hand und sage: „Ja, so lernt man schnell wieder, sich zu erinnern, wie gut man es hat, wenn nur die blöde S-Bahn nicht kommt.“ Isobel Markus
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