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„Multikulti“ im späten Mittelalter

Polen-Litauen war einst das mächtigste Großreich in Osteuropa – dank des friedlichen Zusammenlebens zahlreicher Völker. Ein Vortrag von Alvydas Nikžentaitis im Berliner Pilecki-Institut

Von Gabriele Lesser

Wer „Multikulti“ nur mehr als Schlagwort im ideologischen Kampf um Zuwanderung, Ausländerintegration, Toleranz und Parallelkulturen versteht, der konnte sich am Freitagabend beim Blick auf einen aus Berlin in die Welt gestreamten Vortrag auf eine Zeitreise begeben und den „Multikulturalismus“ mit Blick auf Polen und Litauen neu entdecken.

„Jede Nation ist auf etwas anderes stolz“, begann der renommierte Geschichtsprofessor Alvydas Nikžentaitis aus der litauischen Hauptstadt Wilna ganz harmlos seinen Vortrag, fuhr dann aber fort: „Wir Litauer zum Beispiel sind heute sehr stolz darauf, dass im Großfürstentum Litauen mehr Juden lebten als im Königreich Polen.“

Im Pilecki-Institut am Pariser Platz, das gemeinsam mit dem Polnischen Institut, dem Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Litauischen Botschaft in Berlin zu Vortrag und Diskussion eingeladen hatte, konnte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Die Gäste – zumeist Exilpolen und an Osteuropa interessierte Deutsche – schienen sich fieberhaft zu fragen: „Auf was sind wir eigentlich gerade stolz?“

Das Thema des Vortrags des renommierten litauischen Geschichtsprofessors lautete: „Der Polnisch-Litauische Unionsstaat und das alte Reich. Im Spannungsfeld von Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur“. Polen-Litauen war in der frühen Neuzeit zu einer Großmacht geworden.

Nikžentaitis machte seinem Ruf als brillanter Redner alle Ehre. Immer wieder verblüffte er sein Publikum mit Einsichten und Anekdoten, die dazu anregten, die höchst persönlichen wie auch die regierungsamtlichen Positionen zu „Multikulti“ zu überdenken. So profitiert heute die polnische Minderheit in Litauen von der positiven Bewertung des Großfürstentums Litauen als Vielvölkerstaat, in dem zahlreiche na­tio­nale, ethnische und religiöse Minderheiten weitgehend friedlich miteinander lebten: Der sich über Jahrzehnte hinziehende Streit über die Schreibweise polnischer Namen konnte vor Kurzem beigelegt werden. Polen dürfen die Originalschreibweise ihres Namens beibehalten und müssen ihn nicht mehr litauisieren.

In Polen hingegen hat gerade das Parlament mit der Mehrheit der Stimmen der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) beschlossen, die Kinder der deutschen Minderheit in Polen künftig zu diskriminieren und sie ab dem neuen Schuljahr nicht mehr mit drei Stunden muttersprachlichem Deutsch­unterricht zu fördern, sondern nur noch mit einer.

In der aktuellen Selbstvergewisserung der Litauer spiele Polen immer wieder eine zentrale Rolle. „Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Polen und Litauen über Jahrhunderte das mächtigste Großreich Osteuropas bildeten“, sagte Nikžentaitis. Auch Deutschland und seine Geschichtsdebatten hätten großen Einfluss auf den Diskurs in Litauen, so beispielsweise die Frage nach Schuld und Mitschuld am Holocaust.

Schon Mitte der 1990er Jahre hätten der damalige Premier wie auch der Staatspräsident Litauens die Verbrechen von Litauern während des Zweiten Weltkriegs anerkannt und bei überlebenden Juden wie den Nachfahren der Opfer um Vergebung gebeten. Auch das sei eine Form des Multikulturalismus. Dass ausgerechnet Angela Merkel, die damalige Kanzlerin Deutschlands, das „Ende von Multikulti“ verkündete, habe viele Menschen in Litauen tief verstört.

In gut einem Monat sollen der Vortrag und die Diskussion auf den Seiten der Veranstalter online gestellt werden.

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