Zum Tod von Antiatom-Ikone Jochen Stay: Er organisierte das „Nein“
Jochen Stay hat entscheidend zum Atomausstieg von Deutschland beigetragen. Jetzt ist er im Alter von 56 Jahren verstorben.
Der politische Kopf und Sprecher der bundesweiten Anti-Atom-Initiative „Ausgestrahlt“ hatte vor allen anderen vor dem grünen Mäntelchen gewarnt, das man in Europa den Atommeilern überziehen will. Stay war misstrauisch, das gehörte zum Kerngeschäft eines Menschen, der die Finten und Märchen der Atomindustrie so gut kannte wie nur wenige im Land. Den Grünen warf er Krokodilstränen vor. Der Spurensucher hatte nämlich recherchiert, dass im Koalitionsvertrag der Ampel ein wichtiger Satz, mit dem man sich gegen den EU-Handstreich positioniert hätte, wieder gestrichen worden war.
Sein Verriss der EU-Taxonomie gehörte zu seinen letzten Aktivitäten. Immerhin erlebte er am Jahreswechsel noch das Aus der Atomkraftwerke in Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen.
Stay hatte ein Gefühl dafür, wie man Menschen mitnimmt
Für einen Menschen, der hauptamtlich und mit bestürzender Leidenschaft und Radikalität sein halbes Leben lang die AKW-Ablehnungsfront organisiert hatte, war das kein Tag wie jeder andere. Stay sprach – ungewöhnlich für ihn – sogar von einer Art Freudenfest, dass das Ende des Jahres nach dem Abschalten der letzten deutschen Meiler stattfinden soll.
Jochen Stay stammte aus Mannheim. In den 1980er Jahren beteiligte er sich an den Pershing-Blockaden in Mutlangen. Über die Demonstrationen gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf stieß er zur Anti-Atom-Bewegung.
Anfang der 90er Jahre engagierte er sich vor allem im Wendland, wo er zeitweise auch im Vorstand der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg arbeitete und als Sprecher der Initiative „X-tausendmal quer“ die Blockaden gegen die Castortransporte organisierte. Stay, sagt das Gorleben-Urgestein Wolfgang Ehmke, hatte ein Gespür dafür, wie man Menschen mitnehmen kann, für die Blockaden eigentlich eine Grenzüberschreitung sind.
Stay selbst ging dafür ins Gefängnis. Wegen einer „bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung von Straftaten“ und „Aufruf zum Landfriedensbruch“ wurde er im Zuge der Castor-Blockaden drei Tage eingesperrt. Man habe ihn in der heißen Zeit schlicht aus dem Verkehr gezogen, sagt Ehmke, eine rechtswidrige Aktion, wie das Oberlandesgericht Celle dann feststellte.
Das größte Verdienst Stays war womöglich, dass er die Großdemonstrationen gegen Angela Merkels Laufzeitverlängerung 2010 und nach Fukushima 2011 organisierte. Die 120 Kilometer lange Menschenkette von Brunsbüttel nach Krümmel war historisch. Es folgten weitere große Protestzüge und Menschenketten, die Meinungsumfragen kippten und – Merkel beschloss den Ausstieg. Stay hat dazu mehr als nur ein Scherflein beigetragen.
Ein unbequemer, aber großer politischer Kopf
Und er hörte nicht auf. Während die alten Aktivisten eher entspannt und ein wenig müde die neue Energiepolitik betrachteten und sich Wind und Sonne zuwandten, blieb Stay auf dem Posten. Er war die große, durchaus lautstarke und vor allem unnachgiebige Konstante, die die Konkursmasse der deutschen Atomindustrie jederzeit im Blick behielt.
Atommüll, Endlagersuche, Zwischenlagerung, der Freifahrtschein für niedrigradioaktiven Bauschutt von stillgelegten Meilern, die Forschungsreaktoren, die Urananreicherung in Gronau, Wasserstoff aus Atomkraft: Die Nervensäge Stay war immer da, war immer rigoros und immer bestens informiert.
Man hätte ihm gern nach den Erfolgen der zähen Atomproteste irgendwann eine andere Rolle gewünscht, mit der er seine Expertise und Leidenschaft freudvoller hätte einbringen können.
Es kam nicht mehr dazu. Das Freudenfest am Jahresende wird nun ohne ihn stattfinden müssen. Jochen Stay ist mit 56 Jahren einer Herzkrankheit erlegen. Die Zivilgesellschaft verliert einen unbequemen, aber großen politischen Kopf, einen Dickschädel und Leader. Was hätte er an Silvester 2022 gesagt? Vielleicht das: „Der Ausstieg ist ein Riesenerfolg für uns, aber die Dinger stehen ja noch an unseren Grenzen und in vielen Ländern der Welt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen