Zur vorletzten Ruhestätte

Foto: Erik Irmer

Ein etwas schwer zu entschlüsselndes Bild hat unser Fotograf bei einem Streifzug durch den Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg aufgenommen.Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Es ist die Zeit nach dem Fest, der Baum kann weg. Das verrät der simple und wohl selbst gezimmerte Christbaumständer, der hier praktischerweise mit entsorgt werden kann, da er aus demselben Material ist wie der Baum.

Was aber verrät uns die Haltung der Person mit der blauen Jacke? Nun, da wird es unklar. Man könnte in der Geste Respekt vor dem erkennen, was der Baum zuletzt geleistet hat – Lichterglanz, Tannenduft, Kindheitserinnerungen. Einmal noch wird er anerkennend hochgehalten – ecce arbor! – und angemessen würdevoll dort abgelegt, von wo aus er seinen letzten Weg antritt. Eine zärtliche Geste, ehe die Männer von der Stadtreinigung kommen und ihn in den gefräßigen Schlund eines Abfallsammelfahrzeugs mit Pressplattensystem wuchten, in dem er mit den anderen Bäumen zu einem kompakten Tannenbaumpaket verdichtet wird.

Der blaubejackten Person, die den Baum mutmaßlich einst ausgewählt hatte – mit der gleichen Geste mag sie ihn vor dem Fest hochgehalten und gedacht haben „Der hier ist doch schön!“ – wird dieser Gedanke im Moment des Übergangs in die Zeit danach qualvoll sein. Leb wohl, Du lieber Baum!

Aber kann das sein? In Berlin? Jener Stadt also, die dafür bekannt ist, den Weihnachtsbäumen ein Ende zu bereiten, das man von dieser oftmals so rauen Metropole erwartet? Dort werden die Bäume zumeist achtlos am Straßenrand abgelegt, fliegen manchmal gar aus Fenstern, rollen auf Straßen und Gehwegen umher, werden von Hunden angepinkelt (und Menschen), bevor sie – wie oben geschildert – verdichtet werden. Nicht hingegen werden, um mit dieser Mär aufzuräumen, gebrauchte Berliner Weihnachtsbäume an die Zoo-Elefanten verfüttert; das passiert nur mit den nicht verkauften. Nicht mal also diese sinnvolle Weiterverwendung billigt man einem Bäumchen wie dem hier gezeigten zu, weil Wachsreste und andere Festbestände den Dickhäutern schaden könnten.

In anderen Städten werden Bäume würdevoller zur vorletzten Ruhestätte gebracht; man trägt sie auf Schulhöfe, auf denen sie in einer dafür ausgewiesenen Ecke mit ihresgleichen noch ein wenig kuscheln können, bevor auch sie abgeholt werden. In Städten wird dieses Abschiedsritual gepflegt, in denen das gesellschaftliche Klima weniger hart ist als in Berlin – und, ja, vielleicht erfahren wir über die Art des Umgangs mit abgeschmückten Bäumen etwas über den Charakter einer spezifischen Gesellschaft.

Erleben wir hier also einen gerade erst nach Berlin gezogenen Kleinstädter, der noch unverdorben ist vom scharfen Wind in der Großstadt? Dafür würde die Größe des Baums sprechen; denn wer zuzieht nach Berlin, muss sich mit kleinen Kammern begnügen, Wohnraum ist knapp.

Auch der selbst gebaute Christbaumständer deutet darauf hin: Der stabile von Krinner, der jeden Baum sicher hält, könnte unauffindbar im Umzugsgut unseres Neuberliners verborgen gewesen sein. Möge er ihn vor dem nächsten Fest finden, sich seinen liebevollen Umgang mit dem abgeschmückten Baum aber bewahren – und Berlin ein bisschen davon beimischen. Felix Zimmermann