kritisch gesehen
: Charmant aus der Zeit geworfen

Vorm „Bierhaus Bayrisch Zell“ im Juli 1975 Foto: Enno Kaufhold, VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Lange hat er die Bilder gut bewahrt liegen gelassen, 40, 50 Jahre. Hat sie womöglich immer mal wieder angeschaut, die Abzüge, die Negative; und hat nachgedacht, ob die Zeit reif ist, sie zu zeigen und zu publizieren: das Bild von dem älteren Herren, der mit der blondierten Prostituierten womöglich über den Preis verhandelt; der rauchende Mann im weißen Hosenanzug zum Cowboyhut und den weißen Schuhen: Bilder aus St. Pauli, aus den 1970ern- bis in die 1980er-Jahre.

Ende der 1960er-Jahre kommt der heutige Fotohistoriker, Kurator und Lehrende Enno Kaufhold nach Hamburg, vorher aufgewachsen bei Oldenburg. Er holt das Abitur nach, absolviert den zweiten Bildungsweg, studiert Kunst- und Fotogeschichte, soziologisch grundiert.

Parallel aber fotografiert er ganz praktisch und unakademisch auf St. Pauli. Heimlich fotografiert er, verdeckt; jedenfalls so, dass die Abgebildeten, die damals Festgehaltenen nicht ins Posen kommen, nicht die Muskeln spielen lassen, sich nicht mit Schmackes gegenseitig auf die Schultern hauen oder sich sonst wie in Szene setzen. Wer hat auch damals schon einen Fotoapparat mit sich und wer rechnet umgekehrt damit, dass ihn jemand auf der Straße fotografiert, nur weil er betrunken in einem Hauseingang hockt oder beim Skat schnell noch ein Bier nachbestellt? So geht es über die Reeperbahn, durch den Hamburger Berg, die Große Freiheit, die derzeit so gern gezeigt wird, wenn über die Einhaltung der Coronaregeln berichtet wird.

Die Silbersackstraße und dann die Herbertstraße werden durchschritten, in der legendären Kneipe „Zum Goldenen Handschuh“ nimmt man Platz. Es ist erleuchtete Nacht, es ist helllichter, fast greller Tag, man meint die Hitze zu spüren, die von den nüchtern verputzten Häuserwänden abstrahlt. Und – es fällt einem einfach auf und man wundert sich: Es sind keine Fahrräder zu sehen! Überhaupt scheinen alle ganz gemächlich unterwegs zu sein und offenbar hat niemand es eilig und die Stadt ist aufgeräumt, übersichtlich und sie ist oft sehr leer. Hier und da parkt ein einzelnes Auto. Die Zahl der Automarken ist sehr übersichtlich.

So ist Kaufholds später ­Bilder-Essay über St. Pauli immer auch eine Erzählung über das damalige Tempo der Stadt. Was überhaupt den Reiz der übrigens dramaturgisch brillant aufgebauten Schwarz-Weiß-Aufnahmen ausmacht: Man wird auf eine überaus charmante Weise aus der heutigen Zeit geworfen und gleicht das zu Sehende doch immer wieder aufs Neue mit dem Heutigen und Vertrauten ab. Alles ist schon da und alles ist ganz anders: das Elende, das Verruchte, das Spießige, das Normale. Wie wohl Menschen, die damals noch nicht auf der Welt waren, diese Bilder sehen? Frank Keil

„St. Pauli. 1975–1985“: bis 20. 1., Hamburg, Freelens-Galerie, Alter Steinweg 15.Das gleichnamige Fotobuch ist im Junius-Verlag erschienen, 320 S., 49,90 Euro