Ausgehen und rumstehen von Robert Mießner
: Neujahr bei den russischen Impressionisten

An einem menschenleeren Berliner Morgen aufbrechen und eine Stunde darauf in Potsdam vor einem Pariser Festtagsgewimmel stehen: Wenn diese Erfahrung vom ersten Sonntag des Jahres einen Hinweis darauf abgibt, wie es mit ihm weitergehen kann, dann könnte es etwas werden mit uns und 2022. „Karnevalstag in Paris“ heißt Nicolas Tarkhoffs Gemälde, das am Anfang der Ausstellung „Impressionismus in Russland“ im Potsdamer Museum Barberini steht. Sie ist noch bis zum noch bis zum 9. Januar zu sehen.

Tarkhoff zeigt auf seinem hochformatigen Bild, wie eine vielfarbige, vielköpfige Menge zu einer Straßenecke strömt und sich zu einem maskierten Umzug anschickt. Das hat nichts Bedrohliches an sich. Die Fenster, Balkone und Dachterrassen sind bevölkert. Blau ist der Himmel über Paris und taghell die Stadt; der Schatten eines Hauses, das selbst nicht auf dem Bild zu sehen ist, verstärkt diesen Eindruck noch. Im Ausstellungskatalog lokalisiert die Kunsthistorikerin Tatiana Yudenkova das Treiben noch genauer, Tarkhoffs Karneval findet auf dem Boulevard St. Denis statt.

Nicolas Tarkhoff war einer der russischen Künstler, die es im späten 19. Jahrhundert nach Paris zog und die dort, an die Grenzen ihrer akademischen Ausbildung gelangt, die moderne Metropole mit einer modernen Malerei erfassen sollten. Tarkhoffs Stadtansichten konnten übrigens auch weniger festlich erscheinen, seine „Straße im Pariser Vorort Saint-Martin“, 1901, ein Jahr nach dem Karnevalsumzug entstanden, fängt einen Regentag wie aus Blei ein.

Ein Jahrzehnt später malt Nikolai Feschin sein Mädchenporträt „Katjenka“: Ein nachdenkliches, in sich versunkenes Gesicht taucht aus einem schemenhaften Straßenzug auf oder aber verschwindet in ihm. Einer der Höhepunkte dieser über 80 Bilder umfassenden Ausstellung, in der zu den städtischen Szenen ländliche Motive und Jahreszeiten kommen. Da ist Igor Grabars „Weißer Winter. Saatkrähennester“, an sich eine Versammlung der Sujets, die man in einer Ausstellung zum russischen Impressionismus erwartet: eine Holzhütte, schier unter ihrer Schneelast zerbrechend, davor eine Birke. Aber die Nester aus dem Titel sitzen auf Ästen, die förmlich aus dem Bild zu steigen scheinen, so wintermüde sie auch wirken mögen.

Grabars „Weißer Winter“ ist gut vor dem letzten Ausstellungsraum platziert, „Transformationen des Impressionismus“. Die Bilder werden unheimlich dynamischer: In Georgi Jakulows Nachtpanorama „Bar“ meint man an einem Pfeiler eine Uhr zu entdecken. Ein kleines, aber nicht unwesentliches Detail: Bis dahin ist es einzig Sergei Winogradows Sommerstück „Im Haus“ gewesen, in dem ein Zeitmesser an der Wand hing. Auch die Stadt ist eine andere geworden: Michail Larionow zeigt in „Rayonistische Komposition ‚Stadt bei Nacht‘“ die Metropole als einen schwindelerregenden Sturz aus Licht und Farbe. Jahre zuvor hatte Larionow einen Fliederstrauch in grüner Vase vor meerblauem Hintergrund gemalt. Die Entgrenzung, die sich dort ankündigte, ist in seiner Stadtansicht weitergetrieben und trägt psychedelisch-rauschhafte Züge.

Nicht unähnlich dem „Wald“, den Larionows Lebenspartnerin Natalja Gontscharowa 1915 malt und der am Ende der Ausstellung steht. Fast schon ein Bühnenbild, denke ich, und tatsächlich gehen Larionow und Gontscharowa im selben Jahr nach Paris, wo sie für die von Sergei Djagilew geführten Ballets ­Russes arbeiten.