Vergessene Perlen

Sogar der Berliner Fernsehturm sieht hier aus wie eine Discokugel: Der Stadt Berlin im Film widmen sich ein Buch von Stefan Jung und Marcus Stiglegger und eine Filmreihe

Die Filmreihe zu „Berlin Visionen“ startet mit „Westler“, von Wieland Speck 1985 inszeniert Foto: Edition Salzgeber

Von Andreas Hartmann

Berlin ist die Stadt der Umbrüche. Keine Metropole steht still. Doch im Vergleich zur deutschen Hauptstadt sind Paris, London oder New York in den letzten Jahrzehnten zwar durchgentrifizierter und teurer, um nicht zu sagen: unbezahlbarer geworden. Im Kern aber die Orte geblieben, die schon Generationen anhand des Eiffelturms, des Big Bens oder des Central Parks in Schulbüchern oder auf Postkarten erkennen. Während das einst geteilte Berlin sein viele Jahre lang wichtigstes Symbol, die Mauer rund um Westberlin, nach der Wiedervereinigung verloren hat. Dafür hat es ein paar neue Erkennungsmarker dazubekommen. Den kühn umgestalteten Reichstag zum Beispiel, die wichtigtuerische Architektur des Potsdamer Platzes, jetzt frisch diese lustige Schloss­attrappe im Herzen der Stadt. Und das Berghain mit der weltberühmten Menschenschlange davor, auch wenn die gerade für Touristen – aus Gründen – nicht zum Sightseeing-Pflichtprogramm gehört.

Es liegt nahe, diese Entwicklungen und Veränderungen auch visuell einzufangen. In Spiel- und Dokumentarfilmen. Berlin hat sich inzwischen zu einer europäischen Filmmetropole gemausert. Hier wird gedreht, was das Zeug hält, auch internationale Produktionen.

Die beiden Filmwissenschaftler Stefan Jung und Marcus Stiglegger haben nun mit „Berlin Visionen“ einen Essayband zusammengestellt, der „filmische Stadtbilder seit 1980“ untersucht, so der Untertitel des Buches. „Seit 1980“ – das wirkt ein wenig willkürlich. So entsteht aber die Möglichkeit, sich einem bestimmten Zeitraum intensiver widmen zu können, schließlich ist das Buch auch so schon ein Wälzer von 370 Seiten geworden. Berlinfilmklassiker wie „Eins, zwei, drei“ von Billy Wilder werden zwar erwähnt, tiefere Analysen solcher ollen Kamellen muss man freilich woanders auftreiben.

In einzelnen Essays werden von den 20 Film-, Kunst- und Kulturwissenschaftlern, die an dem Buchprojekt beteiligt sind, Berlinfilme der letzten vier Dekaden vorgestellt. Dazu gibt es ein Gruppeninterview mit ein paar Filmemachern, die vor allem in den Achtzigern prägend waren. Ein Glücksfall ist, dass nicht etwa die üblichen Gassenhauer von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ bis „Der Himmel über Berlin“ erneut untersucht werden, sondern vergessene Perlen, die man maximal Kultfilme nennen kann. Wie etwa „Kalt wie Eis“ von Carl Schenkel (1981) oder „Alpha City“ von Eckhart Schmidt (1985).

Es gibt bereits zig Bücher über Berlinfilme, genauso wie über bestimmte Drehorte, an denen diese mal mehr, mal weniger berühmten Streifen entstanden sind, die man als Fan dann ablatschen kann, wenn einem danach ist. Auch „Berlin Visionen“ bietet als kleinen Bonus-Service eine Liste mit Schauplätzen vorgestellter Filme an. Und doch ist das Buch ein außerordentlich originelles Kompendium geworden.

Einerseits wirkt es mit seiner eher auf randständige Filme hin zugeschnittenen Auswahl schon sehr auf den Geschmack der Herausgeber hin zugeschnitten. Doch wer mit deren Vorliebe für Punk, Trash, Horror und Genre an sich kein Problem hat, lässt sich hier gerne mitreißen und wird selbst als größter Kenner der einzelnen Filme noch etwas an zusätzlichem Wissen für sich mitnehmen können. Dazu kommt, dass die Essays durchaus einen filmwissenschaftlichen Grundton haben, aber trotzdem leicht wegzulesen sind. Und teilweise wirklich lustig sind.

Wer die Vorliebe für Punk, Trash und Horror teilt, lässt sich hier gerne mitreißen

Von Januar bis März 2022 findet im Lichtblick-Kino eine begleitende Filmreihe statt, die am 29. 1. mit „Westler“, einer Liebesgeschichte zweier Männer zwischen Ost- und Westberlin von Regisseur Wieland Speck, ein Meilenstein des Queer Cinema, eröffnet wird. Der Fokus der Reihe liegt auf Berliner Subkulturen.

Die Ausgangsidee des Buches ist: Berlin ist nicht nur diese vielbeschworene Stadt im Wandel, der sich quasidokumentarisch mit der Kamera einfangen lässt. Sondern die Stadt und ihre Topografien werden in den diversen Berlinfilmen immer wieder neu und anders inszeniert, die Veränderungen sind auch künstlerisch gemachte. So unterscheidet sich das Berlin, das etwa in dem Technofilm „Berlin Calling“ (2008) dargestellt wird, fundamental von dem, das in der Serie „4 Blocks“ (2017 bis 2019) eingefangen wird. Im Film von Hannes Stöhr ist die Stadt ein einziges Party-Paradies mit Clubs an jeder Ecke und Möglichkeiten für Abstürze aller Art. Sogar der Berliner Fernsehturm sieht hier aus wie eine Discokugel. In der erfolgreichen Serie dagegen ist sie vor allem auf das harte Pflaster Neukölln verdichtet und ein Tummelplatz für Gangster und Clans. Berlin ist nicht einfach nur so da, sondern es kommt darauf an, was man als Filmemacher aus ihm macht.

Am lustigsten im ganzen Buch kommt der Essay über „die seltsame Abwesenheit Berlins in den Filmen von Til Schweiger“. Dessen verstörend erfolgreiche Filme spielen meist in Berlin. Doch, so das Fazit des Aufsatzes: man sieht es einfach nicht. Und Til Schweiger, dessen Audio-Kommentare zu seinen DVDs als Fleißarbeit vom Autor des Textes analysiert wurden, scheint darauf auch noch stolz zu sein. Was für eine Verschwendung.

Das Buch: Stefan Jung, Marcus Stiglegger (Hrsg.): „Berlin Vi­sio­­nen“. Martin Schmitz Verlag, 2021, 370 Seiten, 24 Euro

Die Filmreihe startet am 29. Januar im Lichtblick-Kino, mit Buchvorstellung und „Westler“und mit Wieland Speck