: Umschulung nach Unfall
Die Stabhochspringerin Annika Becker hat den Stab beiseite gelegt und springt jetzt weit. Bei der deutschen Meisterschaft wurde sie Sechste. Warum die deutsche Rekordhalterin sich nun in einer neuen Disziplin erprobt
WATTENSCHEID taz ■ Der Zeitplan hatte es gut mit Annika Becker gemeint, und so fanden am späten Sonntagnachmittag im Wattenscheider Lohrheidestadion die Wettbewerbe der Stabhoch- sowie der Weitspringerinnen nahezu zeitgleich statt, voneinander getrennt nur durch eine Stadionkurve.
Der jungen Frau aus Bebra blieb es erspart, einen Blick auf ihre alten Konkurrentinnen werfen zu müssen, zu sehr war sie mit sich selbst und ihrem Wettkampf beschäftigt. Sechsmal lief sie an, sechsmal sprang sie, am Ende zeigte die Anzeigetafel 6,22 Meter, die die Athletin natürlich nicht hoch, sondern weit gesprungen war. Platz sechs bei den deutschen Meisterschaften machte das und so ganz zufrieden war Becker mit dieser Leistung nicht.
Dass nebenan der Meistertitel mit dem Stab für überquerte 4,40 Meter an die erst 19-jährige Silke Spiegelburg vergeben wurde, hat die Leichtathletin vom Team Erfurt nur am Rande mitbekommen. Annika Becker hält mit 4,77 Meter den deutschen Rekord im Stabhochsprung und sie ist die amtierende WM-Zweite. Erst zwei Jahre ist es her, dass sie bei der Leichtathletik-WM in Paris die Silbermedaille gewann. Es war eine schöne Zeit für Becker, vor allem war es die Zeit, da sie noch wusste, was sie ist, nämlich: Stabhochspringerin, eine der besten sogar.
Heute kann die Studentin der Erziehungswissenschaften das nicht mehr von sich behaupten. Bald ein Jahr ist es nur her, dass sie ihren vorläufigen Rücktritt vom Stabhochsprung bekannt gegeben hat. Ein weiteres halbes Jahr davor hatte sich jener Unfall zugetragen, der sie zu dieser Entscheidung veranlasst hatte: Bei einem Trainingssprung brach der Stab, Becker stürzte kopfüber und ungebremst auf den Mattenrand. Sogar der Notarzt musste kommen. „Ein schwerer Trainingsunfall, der leicht tödlich hätte enden können oder mit einer Querschnittslähmung“, sagt Herbert Czingon, der Bundestrainer.
Auch wenn sich die Verletzung später als glimpflich herausstellte, so war für Becker an diesem Tag im Februar 2004 mehr kaputtgegangen als nur eine Sehne im Halswirbelbereich. Sie hat das Vertrauen in ihre Disziplin verloren – bis heute hat sie es nicht wieder gefunden. Höher als 4,20 Meter ist sie nicht mehr gesprungen, dann spürte sie eine Blockade. „So ein Stab kann wieder brechen, auch wenn alle sagen, dass das Gesetz der Wahrscheinlichkeit dagegen spricht“, so die 23-Jährige. „Es ist einmal passiert, warum sollte es nicht ein zweites Mal passieren?“
Diese Frage kann Becker niemand beantworten. Mag sein, dass ein Gespräch mit einem Psychologen ihr über dieses Trauma hinweghelfen könnte, aber das möchte Becker nicht. Sie will die Sache mit sich selbst ausmachen, nur mit sich. Sie möchte sich weiter dem Weitsprung widmen, dem sie früher eher nebenher und aus Zeitvertreib frönte, und der ihr jetzt als Ersatz dient, sie will nicht ganz aufhören mit der Leichtathletik.
„Es macht mir Spaß“, sagt Annika Becker. Für diesen Spaß nimmt sie auch in Kauf, dass Sponsoren abspringen, Antrittsprämien schrumpfen und sie, bei einer persönlichen Bestleistung von 6,45 Metern, gerade so in der nationalen Spitze mithalten kann anstatt international Medaillen zu sammeln.
Das Einzige, was sie stört, ist, dass man sie als Weiterspringerin in der Szene nicht richtig ernst nehmen will, obwohl sie auch ihre neue Disziplin mit altem Ehrgeiz betreibt. „Derzeit stehe ich ein bisschen zwischen den Disziplinen“, sagt Becker. Wie lange dieser Zustand anhalten wird, kann sie nicht sagen. Woher soll sie denn auch wissen, ob es nicht doch noch mal was wird mit ihrer alten Liebe, dem Stabhochsprung?
FRANK KETTERER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen