Sitzplatzstadion in England: Stand up! For the game!
In der Premier League kehren die Stehplätze zurück, wenn auch nicht überall. Fans hoffen, das Trauma von Hillsborough zu überwinden.
Das Duell der deutschen Trainer Thomas Tuchel und Jürgen Klopp am Sonntag bei Chelseas Heimspiel gegen den FC Liverpool ist die erste Partie, bei der gestanden werden darf in einigen Sektoren des Stadions an der Stamford Bridge. Auch der walisische Zweitligist Cardiff City darf mit Beginn des neues Jahres Stehplätze anbieten.
Sollte die Testphase erfolgreich verlaufen, könnten Stehplätze zur kommenden Saison flächendeckend in den Profifußball auf der Insel zurückkehren.
Der Grund dafür, warum sie einst abgeschafft worden waren, lässt sich in einem Wort zusammenfassen, das für ein Trauma britischer Fans steht: Hillsborough. Im Hillsborough-Stadion in Sheffield kamen im April 1989 beim Halbfinale des FA Cup zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest fast 100 Liverpool-Fans ums Leben, und zwar auf einer Stehplatztribüne. Die Regierung von Premierministerin Margaret Thatcher machte Englands Spielstätten danach zu „All seater“-Stadien. Das folgte der Annahme, dass die Liverpool-Fans selbst schuld waren an den Toten von Hillsborough. Diese Version etablierte die Polizei unmittelbar nach der Katastrophe mit Hilfe der englischen Boulevardpresse.
Die Sun muss boykottiert werden
Vor allem die Sun machte sich zum Sprachrohr der Polizei. Unter der Überschrift „the truth“ („die Wahrheit“) behauptete sie unter anderem, dass Liverpool-Fans den Toten ihre Wertsachen gestohlen oder auf Rettungskräfte uriniert hätten. Diese Anschuldigungen sind der Grund dafür, dass die Sun bis heute in Liverpool boykottiert wird. Mehr noch: Sie wird nicht einmal mehr verkauft in Supermärkten, an Zeitungsständen oder Bahnhofskiosken. Denn es ist längst erwiesen und seit 2016 auch gerichtlich festgestellt, dass nicht Fehlverhalten von Fans schuld war an den Toten von Hillsborough, sondern das Versagen der Polizei.
Trotz dieser Erkenntnis gab es in England lange Vorbehalte gegen eine Rückkehr von Stehplätzen, vor allem aus Liverpool. Die Angehörigen der Hillsborough-Opfer sahen es als Verrat an den Toten an, die Einführung von Stehplätzen überhaupt zu diskutieren. Mittlerweile haben auch sie ihren Widerstand aufgegeben und sich eingereiht in die Koalition der Stehplatz-Befürworter. „Ich habe meine Meinung geändert. Wenn Fans Stehplätze wollen, haben sie ein Recht darauf“, sagte im November Margaret Aspinall, die bei der Hillsborough-Katastrophe ihren 18 Jahren alten Sohn James verloren hat und seitdem das Gesicht und die Stimme der Hinterbliebenen ist. Der FC Liverpool nimmt allerdings nicht an der Probephase mit den Stehplätzen teil. Das hat keine ideologischen Gründe, sondern logistische. Der Club testet in dieser Saison ein eigenes System im Anfield-Stadion. Dieses erlaubt einigen Fans das Stehen in besonders aufregenden Momenten des Spiels, allerdings nicht über 90 Minuten.
Wenn über die Rückkehr der Stehplätze in der Premier League gesprochen wird, dann ist viel die Rede von einer Revolution, doch bei näherem Hinsehen ist das, was ab dem neuen Jahr passiert, gar nicht so revolutionär. Obwohl Englands Profispielstätten reine Sitzplatzstadien sind, wird schon jetzt in einigen Sektoren durchgehend gestanden, zum Beispiel hinter dem Tor und im Gästeblock. Die Vereine ignorieren diesen Verstoß gegen die Stadionordnung, weil sie ohnehin nicht viel dagegen tun können. Praktisch wird sich mit dem Start der Probephase also nicht viel ändern. Nur ist das Stehen in den betroffenen Bereichen künftig auch offiziell erlaubt – und es soll sicherer sein dank der Installation von Klappsitzen mit erhöhtem Geländer, wie man sie aus den Stadien der Bundesliga kennt.
Eine Zeitenwende ist die Rückkehr der Stehplätze dennoch. Sie macht ganz offiziell Schluss mit der Logik, dass Fans schuld waren an den Hillsborough-Toten. Sie beendet die Stigmatisierung von Fans, die Fußball lieber im Stehen verfolgen als im Sitzen. Und sie ist nach dem Scheitern der europäischen Super League, an der sechs englische Clubs beteiligt waren, ein weiterer Erfolg für Faninteressen in England. Möglicherweise wird die Reihe im neuen Jahr noch erweitert. Eine von der Regierung beauftragte Kommission hat gerade vorgeschlagen, das Alkoholverbot auf den Rängen in Englands Profistadien aufzuheben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil