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Willkür, Gewalt und Tod

Aus dem Getto Lodz sind immens viele Fotoaufnahmen überliefert. Fotografiert wurde aus völlig unterschiedlicher Perspektive, von Opfern und Tätern. Tanja Kinzel analysiert den Bestand in ihrem Buch „Im Fokus der Kamera. Fotografien aus dem Getto Lodz“

Von Wilfried Weinke

Vor 31 Jahren überraschte eine Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt die Öffentlichkeit. Unter dem Titel „Unser einziger Weg ist Arbeit“ gewährten mehr als 400 Farbfotografien einen scheinbar harmlosen Blick auf das Getto Lodz, von den Deutschen 1940 in Litzmannstadt umbenannt. Aufgenommen von Walter Genewein (1901–1974), dem Leiter der Finanzbuchhaltung des Gettos.

Die Diarähmchen der Aufnahmen aus dem zweitgrößten Getto im besetzten Polen trugen seine handschriftlichen Kommentare. Eine dieser Betitelungen lautet lapidar: „Getto Ostjuden“. Das Foto zeigt im Hintergrund Mitglieder der sogenannten Judenpolizei, im Mittelgrund Hans Biebow, den Chef der deutschen Gettoverwaltung, korrekt gekleidet, in Uniform, mit weißem Hemd und Krawatte, die Beine in Breeches und Schaftstiefeln. Im Vordergrund: ein Mann, der an dem auf seiner verschmutzten Jacke aufgenähten Judenstern sofort als Getto-Bewohner identifizierbar ist, dessen Kappe seinen verunsicherten Blick kaum verbergen kann. Ein Foto aus Täterperspektive, das unmittelbar die brutalen Machtverhältnisse des Gettos widerspiegelt.

So prägnant ist dieses Bild, dass es wiederholt Verwendung fand, zur Illustration von Zeitungsartikeln, als Poster für den 1998 entstandenen Film „Photographer/Der Fotograf“ des polnischen Dokumentarfilmers Dariusz Jabłoński, auf Buchcovern, wie der 2013 erschienenen Veröffentlichung „Regards sur les ghettos“ des Pariser Mémorial de la Shoah. Dieser, wie es einer der Kuratoren ausdrückte, „sensationelle“ Fund, der die Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen durchbrach, die deutsche Judenverfolgung nicht in Schwarz-Weiß, sondern in Farbe präsentierte, sollte nicht die letzte fotografische Entdeckung zur Geschichte des Gettos Lodz bleiben. Kurz vor der Jahrtausendwende erhielt das Jüdische Historische Institut in Warschau zwei Fotoalben, die dem damaligen Polizeipräsidenten „zur Erinnerung an unsere Zusammenarbeit bei der Lösung der Judenfrage in Litzmannstadt“ gewidmet waren.

Grauenhaftes Leben

Doch es sind nicht allein diese Fotografien, die die grauenhaften Lebensbedingungen im Getto dokumentieren, in dem zwischen 1940 und 1944 zeitweilig mehr als 160.000 Menschen zusammengepfercht waren. Zum Getto Lodz existieren weltweit über 16.000 fotografische Aufnahmen. Fotografien, die die Sozialwissenschaftlerin Tanja Kinzel zum Gegenstand ihrer Analyse macht. Kinzel, die sich bislang in verschiedenen Aufsätzen mit dem Getto Lodz und dessen fotografischer Überlieferung beschäftigte, veröffentlicht unter dem Titel „Im Fokus der Kamera“ eine voluminöse Darstellung zu den unterschiedlichen Fotobeständen, dem Kontext ihrer Entstehung, den Fotografen und Fotografinnen, vor allem deren höchst unterschiedlichen Perspektiven.

In ihrer detaillierten Arbeit, vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin als Promotion angenommen, verweist die Autorin nicht nur auf die unterschiedlichen Provenienzen der Fotografien, die sich etwa in Archiven in Polen, im Ghetto Fighter’s House und in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel, im United States Memorial Museum, aber auch im Bundesarchiv, im Jüdischen Museum Frankfurt, im Deutschen Historischen Museum und im Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin befinden. Kinzels Darstellung zeichnet sich schon auch darin aus, dass sie zwischen den Fotografierenden und deren Perspektiven differenziert, zwischen denen aus den Reihen der deutschen Besatzer, den Funktionären der Gettoverwaltung, Militärs, Polizisten, „Volksdeutschen“ und Bildberichterstattern des „Deutschen Ausland-Instituts“. Und den jüdischen Fotografen, die im Getto fotografierten.

Kinzel nennt nicht nur die Fotografen, die im Auftrag der „Statistischen Abteilung“ des „Judenrates“ fotografierten, sondern verweist auf die erstaunliche Zahl von mindestens elf weiteren Fotograf:innen, die im Getto tätig waren, sich sogar genossenschaftlich organisiert hatten. Obwohl die deutsche Gettoverwaltung angeordnet hatte, dass alle Fotoapparate beschlagnahmt werden sollten, konnten einige Fotografen ihre Ausrüstung retten, verbergen, aber auch nutzen.

Namentlich erwähnt sie Mendel Grosman, Henryk Ross und Lajb Maliniak, die vor allem für den Judenrat arbeiteten. Die durch sie erstellten Alben und Plakate dienten zuallererst dem Nachweis der Effizienz der Fabriken und Werkstätten des Gettos, die nicht nur für die deutsche Kriegswirtschaft, sondern auch für Unternehmen wie Josef Neckermann oder das Alsterhaus in Hamburg produzierten.

Besondere Würdigung erfährt Arie Ben Menachem (1922–2006), dessen Album im Gegensatz zu den Darstellungen des Judenrates die Willkür, Gewalt, Hunger und Tod im Alltag der Zwangsgemeinschaft thematisierte. Er legte mit seinen Fotos Zeugnis ab und realisierte damit zugleich eine Form der Selbstbehauptung und des Widerstands.

Der internationalen wie nationalen Fachliteratur, der fünfbändigen Getto-Chronik, den Überlebensberichten, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen fügt Tanja Kinzel eine vielschichtige, fast 600 Seiten umfassende Analyse des immensen Fotobestandes zum Getto Lodz bei. Nicht nur der Autorin gebührt dafür Anerkennung und Respekt, sondern auch dem Verlag, der mit der richtigen Papierwahl der his­torischen Bedeutung des Fotomaterials gerecht wird. Die zahlreichen illustrierenden Abbildungen saufen nicht ab, sondern behalten trotz ihrer al­tersbedingten Schwäche genügend Tiefenschärfe und Aussagekraft.

Kinzels Buch erweitert und differenziert unseren Blick auf das Getto, das unter der Devise „Unser einziger Weg ist Arbeit“ die Chance des Überlebens suggerierte, aber für Zigtausende, wie es der in Auschwitz ermordete Oskar Rosenfeld ausdrückte, zum „Krepierwinkel Europas“ wurde.

Tanja Kinzel: „Im Fokus der Kamera. Fotografien aus dem Getto Lodz“. Metropol Verlag, Berlin 2021, 592 Seiten, 36 Euro

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